Donnerstag, 30. April 2009

Abschied 9

Ich reise mit leichtem Gepäck bei schönstem Wetter.

Ab Willisau nach Zürich Flughafen mit Umsteigen in Luzern.
Ab Zürich Flughafen nonstop nach Hamburg.
Ab Hamburg mit Umsteigen in Itzehoe nach Meldorf.
Ankunft 21:23 Uhr.

Mittwoch, 29. April 2009

Abschied 8

Ich verlasse die Mühle. Das große Gepäck hat meine Schuhfrau gestern Abend vorsorglich abgeholt. Das kleine Gepäck besteht aus dem Laptop, dem angeschwollenen Notizbuch und meiner Zahnbürste.
Ich habe mich von den Crispins verabschiedet und meinen Dank hier gelassen. Ich habe mich von den Piloten der Air Willisau verabschiedet. Ich habe mich von der Buchhändlerin verabschiedet. Und ich habe mich vom Buchhändler verabschiedet. Ich habe mich von den guten Seelen in der Mühle verabschiedet. Habe ich jemanden vergessen? Ich habe mich von der Geigerin, dem Organisten, dem Pfarrer verabschiedet. Den Nachbarn, den Hasen, dem Töpfer, der Frisöse, die Schumacher heißt aber nicht Schuhmacher ist.
Und ich habe Willisauer Ringli gekauft und Amarettis.
Heute Nacht schlafe ich zum ersten und letzten Mal im Sankt Crispin in Menznau. In einem Zimmer unter dem Dach, in dem bestimmt die eine oder andere meiner Figuren die eine oder andere Nacht auch schon verbracht hat.

Dienstag, 28. April 2009

Abschied 7

Um 13.28 Uhr ist der jüngste Spross der Schuhmacherdynastie zur Welt gekommen: 3.670 kg und 51 cm lang. Ich war zum ersten Mal in der Werkstatt des Willisauer Goldschmieds. Es hat den ganzen Tag geregnet. Ich packe alles bis auf den Computer ein. Am Abend holt die Schuhfrau das Gepäck ab. Wir gehen zum letzten Mal in die Schwesternwirtschaft und trinken ein Glas Wein auf den Neugeborenen. Wolfgang ist in Meldorf eingetroffen. Ich schlafe zum letzten Mal in der Mühle.

Montag, 27. April 2009

Abschied 6

Zum ersten Mal bin ich mit Magenschmerzen aufgewacht. Zum ersten Mal habe ich unglaublich wild geträumt. Die Fotoalben müssen dahinter stecken, hinter den Bildern meiner Nacht. Die Familienfotos, die wir gestern bis spät noch anschauten auf der Suche nach ein paar schwarzweißen Aufnahmen mit gezackten Rändern, die so fest auf dem Papier klebten, als hätte man sie mit Schuhmacherleim für die Ewigkeit in das Album bannen wollen. Wir mussten sie mit einem scharfen Messer von den Seiten schneiden. Und dann spukten die Gäste unzähliger Geburtstags- oder Hochzeitsfeiern durch meinen Schlaf. Aber auch Ferienausflügler und Sonntagsausflügler. Große Kinder und kleine Kinder. Ferienlandschaften und Sonntagslandschaften. Viele Kinder und wenige Kinder. Kaum Alltagsleben. Nur Ausnahmemomente. Ein halbes Jahrhundert Sonntagsgefühle.

Zum ersten Mal regnet es heute den ganzen Tag. Aber ich habe genug Sonne gesehen gestern, bis tief in die Nacht. Der Niederschlag heute ist nicht heftig, aber feucht genug, um als Regen durchzugehen. Durch die Hose oder die dünne Jacke. Kalt ist es nicht. Ich habe genug Farbe gesehen gestern, bis spät am Abend. Heute bin ich zum ersten Mal mit dem Fahrrad durch den Regen gefahren. Die Farbe der Raiffeisenbank wechselt auch tagsüber von pink zu lachs zu grün zu gelb, nur sieht man sie nachts besser. Weit bin ich nicht gekommen, aber weit genug, um nass zu werden.

Sonntag, 26. April 2009

Abschied 5

Zum ersten Mal steht heute der neue Mond am Himmel. Eine riesige dünne leuchtende Fingernagelschmale Sichel hängt am Horizont vor der Windschutzscheibe, während die Schuhmacherin ihre Schriftstellerin in der Nacht in die Mühle zurückbringt.
Sie verbrachten heute zum letzten Mal den Sonntag zusammen.
Über Texten, Schuhen, Geschichten, Fotos und vollen Tellern.
Auf Treppen in den Keller und auf den Dachboden.
An Tischen im Garten und im Haus.

Samstag, 25. April 2009

Abschied 4

Heute war ich zum letzten Mal im Guonwald. Bin hoch und wieder runter gestiegen. Lief über Vorberg wie immer bis fast zur Mörisegg. Weil es so schön war. Hab ein letztes Mal die Alpen am Horizont gesehen und mir zum letzten Mal überlegt, welches das Glärnischmassiv sein könnte, wo der Böse Faulen hervorguckt, wo der Pfannenstock. Wo der Tödi, der Düssi, der Oberalpstock.
In Gottes Namen. Amen.
Heute Nachmittag sah ich die erste Braut vor der mächtigen Kirche vor meiner Nase. Wie sie nervös herumstakste. Mit den Eltern, dem nervösen Vater. Mit der Brautjungfer. Die Schuhe konnte ich unter der bodenlangen Schleppe nicht sehen. Trotzdem sah ich, dass sie zu eng waren. Das Kleid hingegen wirkte von oben einfach nur wie zuviel Stoff. Die Braut rauchte. Unruhig. Ich verstand ihren Zustand nicht. Sie tat das doch alles freiwillig. [Wie nach Redaktionsschluss zu erfahren war, handelte es sich um die erste eidgenössisch diplomierte Polybau-Poliererin, oder Flachdachdeckermeisterin - kein Wunder also, sieht so eine Frau im weißen Hochzeitstüll "verkleidet" aus.]
Zu beiden Seiten des Kirchenportals sind kleine Metallkästen in das Gestein eingelassen. Sie lassen sich entfernen. Ab und zu leert sie der Mann, der im Winter auch den Schnee fegte. Aschenbecher.
Am Vormittag war der Dreißigste für den Napftoten.
Menschen, die zum Palmsonntagshochamt gehen, zur Karfreitagsmesse, zur Osternachtfeier, zum Weißen Sonntag, zum Wettersegen, zum Wortgottesdienst, zum Familiengottesdienst mit Kinderwagen, zur Eucharistiefeier oder zu einem normalen Werktagsgottesdienst am Morgen oder am Abend. Menschen, die sich zu einer Begräbnisfeier versammeln. Menschen, die an Gedenkandachten teilnehmen. Menschen, die zu einer Hochzeit zusammenkommen. Sie alle müssen vor der Kirche schnell noch eine rauchen. Denn drin gilt Rauchverbot. Sie stehen herum wie vor jeder Kneipe. Hektisch und getrieben.
Und der Pfarrer parkt sein Auto direkt neben dem Kirchenportal. Vor Feiertagen und wenn viele Gottesdienstbesucher erwartet werden, wie beispielsweise heute, stellt er es auf eines der blau oder weiß umrandeten Parkfelder unterhalb der Kirche. Wolfgang meinte, scharfzüngig wie er nun einmal ist, rein passe er, der Napfberglandtaugliche Wagen nun einmal nicht. Ein Pfarrer habe ja wohl Anspruch darauf, dass alles, was sein ist, in der Kirche unterkommt.

Freitag, 24. April 2009

Abschied 3

Heute früh hing hoffentlich der Atem des ersten Spaziergängers zum letzten Mal wie eine weiße Wolke vor seinem Gesicht. Heute Abend saß ich zum ersten Mal im Landgasthof auf dem Menzberg, welchen die Einheimischen immer noch Kurhaus nennen. Die Sicht war wie das Wetter. Unschlüssig. Bedeckt. Trotzdem glaubte ich in einem lichten Moment den Titlis erspäht zu haben zwischen Pilatus und Brienzer Rothorn. Vielleicht aber war es auch nur eine stürmische Wolkenfatamorgana. Was ich aber sicher den ganzen Abend vor Augen hatte, war die Hasenmatt. Dort ist eine meiner Figuren zur Welt gekommen.
Ich habe viele Dinge heute zum ersten und zugleich letzten Mal getan, gesehen, gehört.