Samstag, 31. Januar 2009

size 10

Das berühmteste Schuhpaar der Welt, Größe 43 oder size 10, die heiligen Schuhe von Muntazer al-Zaidi (منتظر الزيدي)‎ stammt aus der Istanbuler Schuhfabrik von Ramazan Baydan. Beide Schuhe untersuchten die Ermittlungsbeamten auf Sprengstoff. Danach vernichteten sie sowohl den linken wie den rechten Schuh unverzüglich.

In Tikrit wurde am letzten Mittwoch ein drei Meter hoher, zweieinhalb Meter breiter Kupfer-Schuh des Künstlers Laith al-Ameri aufgestellt. Im Park einer irakischen Wohltätigkeitsorganisation für Kinder, deren Eltern im Zuge der Gewalt nach dem Einmarsch der US-Truppen im Irak 2003 ums Leben kamen. Die Skulptur zu Ehren des "Schuhwerfers von Bagdad" stand keine zwei Tage, sie musste auf Wunsch der örtlichen Behörden unverzüglich entfernt werden.

Freitag, 30. Januar 2009

Auf der anderen Seite der Schuhsohle: die UBS

Die UBS ist so etwas wie die SBB. Ein Kürzel, das uns Helvetiern in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein Kürzel, hinter dem sich ungeheuerliche Zahlen verbergen. Ein Kürzel, das aus drei Großbuchstaben besteht. Ein Kürzel, in dem ein S und mindestens ein B vorkommen. Genaugenommen ist die UBS eine rückwärtsfahrende SBB mit U am Anfang. Und das Kind, das beim Rangieren auf den Hintern fällt, sagt erstaunt: "ups!". Die SBB übernimmt in diesem Kürzestdrama die Rolle eines rückwärtsgewandten, ins Stottern geratenen und vokalbefreiten Synonyms.

Hoppla! In Basel wurde die UBS mit Schuhen beworfen. Lese ich in der Zeitung. Und für alle, die den Witz dieser Meldung nicht verstehen, folgt die Erklärung auf dem Fuß: "in Anspielung auf den irakischen Schuhwerfer".

Ups! Die "Schuhattacke auf die UBS" sei der Höhepunkt einer weitgehend "gewaltlosen" Demonstration gewesen, lese ich weiter. Und: Die befürchteten Ausschreitungen blieben aus. Gut so. Denke ich. Und bereue sofort meine voreilige Freude. Denn: Zum gewaltfreien Ablauf beigetragen haben dürfte, sagt ein Vermittler zwischen Polizei und Demonstranten, die Tatsache, dass vornehmlich Basler Demonstranten anwesend waren.

Essbebee! Zu Hause alte Schuhe einzusammeln und sie nachts vor einer verriegelten Bankfiliale abzulegen, wäre früher als "public littering" geahndet worden. Naseweise Spezialeinheiten der Abfallpolizei wären umgehend aufgeboten worden, dem Fußschweiß nachspürend die Abfallsünder noch vor der Morgendämmerung dingfest zu machen.

Uuuuube-esss! Lektion 1 (Allgemeinwissen): Der Schuh gilt in der arabischen Welt als das unreinste Kleidungsstück überhaupt. Vor dem Beten, vor der Moschee werden Schuhe ausgezogen. Die Japaner gehen sogar noch weiter und ziehen die Schuhe vor dem Betreten eines jeden Hauses aus. Auch für sie ist der Schuh das schmutzigste Element am menschlichen Körper. Die Schuhsohle ist der unreinste Teil dieses unreinen Kleidungsstücks. Sie darf nie auf einen anderen Menschen deuten, der könnte sich angegriffen und zutiefst beleidigt fühlen. Wer Schuhe ausnahmsweise nicht an den Füßen, sondern in der Hand trägt, tut dies nur mit der linken Hand und nur, wenn die Schuhsohlen aneinander liegen. Lektion 2 (Geographie): Der Irak gehört zur arabischen Welt. Lektion 3 (Zeitgeschehen): Der irakische Journalist Muntazer al-Zaidi warf am 14. Dezember 2008 während einer Pressekonferenz in Bagdad seine beiden Schuhe auf den 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Lektion 4 (Anschauungsunterricht): Zaidi zog zuerst den linken Schuh von seinem linken Fuß und warf ihn mit der rechten Hand in die linke Hälfte des Rednerpults mit den Worten: "Dies ist dein Abschiedskuss, du Hund!" Dann zog Zaidi den rechten Schuh von seinem rechten Fuß und warf ihn mit der rechten Hand in die linke Hälfte des Rednerpults mit den Worten: "Das ist von den Witwen, den Waisen und all denen, die im Irak getötet wurden!" Erst dann wurde er von Sicherheitskräften überwältigt. G.W.B. (ex-President of the US) duckte sich rechtzeitig. L.B. (ex-First-Lady of the US) kommentierte in der Presse: "Er ist sehr schnell. Wie Sie wissen, ist er ein Sportler." Mit "er" meint sie hier ihren Gatten. Den von diesem in seiner Funktion als mächtigster Mann der Welt losgetretenen Krieg im Irak bedauert die Gattin im Nachhinein mit all seinen Konsequenzen: "unter Saddam Hussein wäre er hingerichtet worden." Mit "er" meint sie hier den irakischen Journalisten Muntazer al-Zaidi.

Oh, Ihr Göttlich Naiven Basler Demonstranten! Die UBS ist doch nur so etwas wie die SBB.

Mittwoch, 28. Januar 2009

Auf der anderen Seite der Nacht: die SBB

Wenn ich schreibe, kann ich nicht lesen. Ich habe ein einziges Buch in die Mühle mitgenommen: das Oxford-Duden-Bildwörterbuch Deutsch und Englisch. Eine alte Ausgabe, mit chinesischen Kritzeleien auf der Titelseite. Ein Überbleibsel aus einem früheren Büro meines Mannes. Wenn ich schreibe, kann ich nicht lesen. Nicht einmal Zeitung. Ich habe keine Geduld für fremde Gedanken, keinen Platz für fremden Text, keinen Sinn für fremde Sätze. Ich recherchiere, ja. Ich suche gezielt einzelne Wörter (etwa den "Aufschiebling") oder Erklärungen (was um Himmels willen ist eine "Vorgängerin"?). Aber mehr nicht.

Es gibt ein Buch, von dem ich schon seit Monaten wusste, das ich es hier, in der Mühle würde lesen wollen. Ich ließ es direkt in mein Atelier liefern. Das Lawinenbuch von Monika Leuthold. Ich las es so langsam, wie die Autorin es schrieb. Jede Nacht eine Stunde. An seinen stärksten Stellen lebt dieser Text von einfachsten Bildern. Und diese Bilder, nicht eigentlich die ganze Geschichte, sondern vereinzelte Bilder gehen mir unter die Haut. Die Verschüttete und Gerettete wird ins Krankenhaus gebracht. Sie liegt wach. Sie sieht immer dasselbe Bild vor dem Fenster, am Tag und in der Nacht: den Rotsee und die SBB. "Ich blicke auf den Rotsee und die SBB". Ich weiß nicht, wie oft dieser Satz wieder kommt. Ich habe nicht gezählt. Er wiederholt sich wie das "... bitt für uns" im Refrain der Muttergotteslitanei. Rotsee und SBB.

Was ist, fragte ich mich plötzlich, die SBB? Der Rotsee ist ein See bei Luzern, das ist klar. Aber was ist die SBB? Den Rotsee kann man sehen, zweifellos. Aber kann man die SBB sehen? Die SBB ist eine Eisenbahngesellschaft. Sie befördert jährlich über 300 Millionen Fahrgäste und über 50 Millionen Nettotonnen Güter auf einem Streckennetz von 3011 Kilometern Länge. Sie beschäftigt über 28 000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner. Von sich selbst sagt die SBB, sie sei "nicht nur die grösste Reise- und Transportfirma der Schweiz, sondern auch eine der grössten Arbeitgeberinnen in der Schweiz".

Dies alles hat die Patientin, die nach Ansicht der Ärzte nebst ihren mittelschweren Verletzungen auch einen Schock erlitten hat, kaum von ihrem Krankenbett aus vor Augen, wenn sie schreibt, sie sehe den Rotsee und die SBB.

Die Kranke geht auf Reisen. Sie sucht ihre Seele. Sie besucht ihre Seele. Sie konsultiert ihre Seele. Die Seele, schreibt sie, ist am Oberalppass, am Ort des Lawinenabgangs geblieben. Nur der Körper konnte aus dem Schnee ausgegraben und mit dem Helikopter ins Krankenhaus transportiert werden. Die Seele war für die Retter nicht mehr fassbar, für die Verschüttete auch nicht. Die Seele hatte sich verselbständigt. Nur diese Reisen zur Seele, schreibt die Kranke im Bett auf der Intensivstation, machen die Schmerzen im Körper erträglich.

Natürlich lässt sich die Verletzte nicht mit der SBB zu ihrer Seele zurück befördern. Dazu braucht sie weder das moderne Rollmaterial noch den sorgfältig getakteten Fahrplan des Unternehmens. Zu ihrer Seele findet sie aus eigener Kraft im Bruchteil einer Sekunde. Welche Funktion erfüllt also das Kürzel SBB, stereotyp verbunden mit dem Rotsee, in ihren Gedanken?

Poetischer, so scheint es mir, kann Verstörung kaum ausgedrückt werden, als mit Rotsee und SBB. Die aus der Lawine Geborgene sehnt sich nach der Lawine. Denn dort ist ihre Seele stecken geblieben. Gleichzeitig sehnt sie sich nach dem Leben vor der Lawine. Die SBB, dieses uns Helvetiern in Fleisch und Blut übergegangene Kürzel, steht für Normalität. Für Alltag. Für das, was immer war. Und der Rotsee glitzert daneben im Sonnen- oder Mondlicht. Die Schönheit der Natur war immer gegeben im Land der SBB. Es gibt viele verblüffende Sätze in diesem Buch. Es gibt viele erschütternde Sätze in diesem Buch. Es gibt so erstaunliche Sätze wie diese: "Ich fahre so gern Zug. Ich bin Besitzerin eines GAs, eines Generalabonnements." Die Patientin kann nicht schlafen und denkt mit einer gewissen Wehmut daran, dass sie ihr GA innerhalb seiner Gültigkeit vielleicht nicht mehr ausnützen kann. Dass sie körperlich vielleicht nie wieder in die Lage kommt, einen Zug zu besteigen. Und dann formuliert die mit mehreren Rippenbrüchen, einem gebrochenen und einem lahmen Arm aus der Lawine Geborgene ihre Sehnsucht nach dem Leben: "Wenn ich konzentriert in einem Buch lesen oder etwas lernen will, steige ich in den Zug, fahre irgendwohin, stecke individuell angefertigte Ohropax in beide Ohren und arbeite total effektiv. So auch, wenn ich Briefe von Hand verfasse oder etwas Kompliziertes flicken soll. (...) Am Ende der Arbeitsfahrt fühle ich mich obendrein erholt und ausgeruht und zufrieden." Die SBB - der erfüllte Arbeitstag. Die SBB - der Sinn des Lebens. Die SBB - der Garant für Effizienz. Ich blicke auf den Rotsee und die SBB. Poetischer kann, denke ich mir, Verstörung kaum ausgedrückt werden.

Wenn ich schreibe, kann ich nicht lesen. Ich kann mich nicht in fremde Zusammenhänge begeben. Wenn ich schreibe, kann ich nicht reisen. Ich kann mich nicht der Mobilität aussetzen. Ich kann überall schreiben. Ich kann am Wattenmeer schreiben. Ich kann in Willisau schreiben. Aber ich kann nicht unterwegs schreiben. Ich kann nicht auf dem Weg vom Wattenmeer nach Willisau schreiben. Und es wäre mir absolut unmöglich, in einem fahrenden Zug von Hand zu schreiben. Ich brauche eine feste Unterlage und einen unbewegten Hintergrund. Ich besitze nun zum ersten Mal in meinem Leben ein GA. Es gehört zu den Leistungen meines Stipendiengebers. Noch weiß ich nicht, was ich damit anfange. Ja, es gab ein Wort unterwegs, das ich mir merken wollte. Jetzt kommt es mir wieder in den Sinn, nach fast einem Monat in der Mühle. Es gab ein Wort, das wollte ich mir merken und, angekommen, falls das Internet funktionierte, als erstes in die Suchmaschine eingeben. Eigentlich war es ein Unwort. Es flog an mir vorbei auf einer Reklametafel, während ein Zug mich vom Flughafen in die Mühle transportierte. Ich hatte zu viel Gepäck bei mir. Meine eigenen Zusammenhänge. Ich verlor das Wort beim Umsteigen. Ich werde es im Schienennetz der SBB suchen gehen müssen.

Monika Leuthold: Die Lawine. Ich bin drunterdrindraussen. siehe http://www.wartmann-natuerlich.ch/

Dienstag, 27. Januar 2009

Die Unendlichkeit der Nacht

Als wir vor eineinhalb Jahren ans Wattenmeer zogen, musste ich mich daran gewöhnen, dass um 23 Uhr die Straßenbeleuchtung im Ort ausgeht. Bis sechs Uhr morgens ist es in Meldorf dunkel wie in einer Kuh (wie meine Mutter zu sagen pflegt). Einzig am Bahnhof brennt noch eine Stunde länger eine einzige Neonröhre. Genau so lange, bis die letzte NOB nach Sylt durch ist. Wer mit diesem Zug der Nordostseebahn ankommt, muss sich beeilen über die grasbewachsenen Geleise auf den gepflasterten Bahnhofsvorplatz zu kommen. Denn das Licht verlöscht unwiderruflich, kaum hat die Lokomotive ihre leeren Waggons wieder in Bewegung gesetzt.
In der Mühle muss ich mich daran gewöhnen, dass der Tag finster und die Nacht hell ist. Tagsüber nimmt mir, wie bereits gesagt, die mächtige Kirche das Sonnenlicht weg. Und nachts, die ganze Nacht hindurch bis zur Frühmesse, erleuchten die strahlend weißen Laternen zu beiden Seiten des Treppenaufgangs zum Kirchenportal mein Schlafgemach. In dieses kühle Reinweiß mischt sich das warme Orangegelb der Schlosswegbeleuchtung und der Straßenlaternen oben vor dem Zivilstandsamt.
Natürlich verfügen meine fünf kleinen Fachwerkhausfensterchen alle über Sonnenschutzsenkrechtstoren. Aber die mag ich weder am Tag noch in der Nacht herunterziehen. Die quadratischen Fensterunterteilungen und die Wattstärke der Altstadtbeleuchtung bewirken, dass das Licht in der Nacht Gitter und Diagonalen an die Decke über meinem Bett wirft. Wenn ich nicht schlafen kann, weil mir mein Text im Kopf herumspukt, an dem ich nicht aufhören kann zu arbeiten, bis er fertig ist, liege ich mit offenen Augen auf dem Rücken. Ich betrachte die geometrisch geordneten Lichtbahnen, welche die geometrisch anders geordneten alten Balken und die moderne Deckentäfelung brechen, einschneiden, zersägen. Ich zähle auf der Spitze liegende Parallelogramme, Rechtecke, Rhomboide, Rauten, Räume, Trapeze - nicht Schafe. Die Nacht hebt den Raum, der tagsüber nur über eine Höhe von 2 Metern verfügt, seltsamerweise ins Unendliche auf.

Montag, 26. Januar 2009

Ochse und Erde



chinesisches Schriftzeichen für Ochse oder Rind




chinesisches Schriftzeichen für Erde



Nachtrag des Meldorfer Sinologen: Er behauptet, Chinesisch sei die einfachste Sprache der Welt. Viel einfacher als beispielsweise das Polnische mit seinen sieben Fällen und verschiedenen Verbkonjugationen, je nach dem ob eine Frau oder ein Mann die handelnde Person ist. Und tausendmal einfacher als das Schweizerdeutsche, wo er nicht über die erste Lektion von "Loos emol" hinauskam, da er bereits für die einfache Grußformel "hallo" hätte 37 verschiedene Ausdrücke lernen müssen. Die Schriftzeichen sagen alles, sagt der Sinologe. Denn sie zeigen die Welt eindeutig. Aus der Betrachtung der beiden Schriftzeichen für Ochse/Rind und Erde geht deshalb auch zweifelsfrei hervor, warum und wie der Ochse mit der Erde verbunden ist: der Ochse sticht in die Erde, er pflügt sie. Die Erde ist ein Teil des Ochsen.

Das Jahr des Ochsen

Heute beginnt in China das Jahr des Ochsen. Es soll harte Arbeit bringen und gute Erträge.
Asiatische Astrologen warnen, der diesjährige Ochse sei ein Ochse der Erde, trage aber auch das Element des Feuers in sich. Deshalb werde er das ganze Jahr hindurch schlechte Laune haben. Na dann: Prost!
Die Zahl 9 ist eigentlich positiv besetzt bei den Chinesen, bedeutet sie doch (sprich: hat phonetische Ähnlichkeit mit dem entsprechenden Wort) Ewigkeit, lang andauernd. Die 9 wird gerade in Beziehungsfragen besonders geschätzt. Am 9.9.1999 sollen "Abertausende" geheiratet haben. Wieviele dieser Ehen heute noch bestehen, sagt die Statistik leider nicht. Trotzdem verkündet jetzt ein chinesischer Großmeister, dass in jedem Jahr, das mit einer 9 ende, China im Chaos versinke. Na dann: Prost Neujahr!
Um einigermaßen heil durchs Jahr des Ochsen zu kommen, raten die, die es besser wissen wollen, allen Menschen (oder nur den Chinesen?), innere Stärken zu kräftigen, positive Einstellungen zu bewahren, sich im Klaren über die Richtung zu sein, nicht zu viel und nicht zu wenig zu denken und vor allem die Launen im Griff zu behalten. Na dann: Prost Ochsenjahr!

Samstag, 24. Januar 2009

Der Preis der Schönheit

Der Herd in der Mühle funktionierte seit meiner Ankunft nicht richtig. Nicht alle vier Glaskeramikeinkreis- oder -zweikreiskochzonen ließen sich immer einschalten. Die beiden hinteren wurden nur warm, wenn auch eine der vorderen in Betrieb war.
Ich berichtete dem Hausmeister von meinen Beobachtungen. Er kam, drehte an den Energiereglern, schaute zu, wann welches Kochfeld rot wurde und wann nicht, und verstand die Welt auch nicht besser als ich.
Er rief den Service an und der Service-Telefonmann empfahl, die Sicherung zu überprüfen.
An der Sicherung lag es nicht. Der Strom war da und floss. Der Backofen funktionierte, mit "echter Heißluft", "Zartgarautomatik", "katalytischer Selbstreinigung", einem "Sensordrehspiess" usw. Die Uhr funktionierte, das Licht funktionierte, die beiden vorderen Kochzonen funktionierten, die hinteren auch, wenn eine der vorderen arbeitete. Aber eben nur dann.
Der Service-Monteur kam und schloss sein Notepad an die optische Schnittstelle des Kochherds an. So komme er schneller und zuverlässiger zu seiner Diagnose, besagt die nun tennisspielerinnenfreie Werbung der Herstellerfirma. Der Service-Monteur verstand, dass er nicht die richtigen Ersatzteile bei sich hatte und ging wieder.
Ein zweiter Service-Monteur kam und schloss sein Notepad nicht an die optische Schnittstelle an. Er fluchte. Bekräftigte wiederholt, dass er das gar nicht gerne mache. Er fütterte das Notepad mit Daten. Es schickte ihn zweimal hinunter zu seinem Auto. Er schnitt sich einmal in den rechten Zeigefinger. Er wechselte zuerst das elektronisch-verlötete Plättchen auf der linken Seite im Bedienungsfeld aus. Dann das rechte. Es funktionierte nicht. Wieder ein Fluch! Dann fiel ihm auf, dass das neue rechte Teilchen originalverpackt zu seinen Füßen lag. Er hatte auf der rechten Seite das defekte linke Plättchen eingesetzt. So kann es ja nicht gehen! Am Schluss zog er 12 Minuten Arbeitszeit ab. Für den Umweg über die Falschmontage und Demontage. Seltsamerweise kostete das auf der rechten Seite ersetzte drei mal fünf Zentimeter große Plättchen fast das Doppelte wie die linke.

Gottseidank muss nicht ich die Rechnung bezahlen. Sonst müsste ich jetzt in der Tat anfangen zu hungern.

Freitag, 23. Januar 2009

Sturm über dem Napf

Ich höre zum ersten Mal den Wind! Das Radio meldet Sturm- und Orkanböen über dem Napf mit bis zu 129 Stundenkilometern. Ich höre den Wind übers Mühlendach fegen. Ich höre den Wind durch die Abzugshaube über dem wieder funktionierenden Kochherd in meiner Atelierküche. Irgendwo weit weg. Im Weltall! Wie damals in Tsukuba! Ich höre den Wind pfeifen zwischen der durchlässigen Originalmühlenfassade und der undurchlässigen Glasinnenverkleidung. Ich sehe den Wind, obwohl es schon dunkel ist. Ich höre den Wind, obwohl es erst 18 Uhr ist. Das Licht flackert. Das Internet ist instabil. Auf allen Schweizer Radiosendern gibt es ein paar Minuten lang nur noch Störgeräusche. Ich höre den Wind!
Und ich sehne mich zum ersten Mal nach unseren Zwillingshäusern an der Nordsee.

Donnerstag, 22. Januar 2009

Die Schönheit der Welt

Schon bin ich versucht, mich der Schönheit der Welt hier bedingungslos zu ergeben. Ein bisschen Sonne, ein klarer Himmel, ein Spaziergang auf die Chalchtaren (30 min. Fußweg von der Mühle) und ich habe ein bilderbuchhaftes Panorama vor Augen. Schneebedeckte Alpen. Den Bürgenstock. Die Mythen. Den Pilatus. Das Mittaggüpfi. Ein Klischee nach dem anderen. Und alles in todsicherer Entfernung.

Dienstag, 20. Januar 2009

Die rechte Seite und die linke Seite

Es wimmelt in Willisau von Schuhheiligen. Heute habe ich in der Heilig-Blut-Kapelle einen weiteren Crispin entdeckt. Er steht auf der rechten Seite des linken Seitenaltars und hält den Schuhmacherhammer in einer ebenso zierlichen Hand, wie sein Kollege in der schattenspendenden Pfeilerhallenkirche vor meinem Fenster.
Die Heilig-Blut-Kapelle hat nichts mit Schuhmachern am Hut, jedenfalls schweigt sich die Legende zum Beruf ihrer Protagonisten aus. Da heißt es nur, am 7. Juli 1392 sollen "drei Männer" Karten gespielt haben. Der Verlierer soll sein Schwert gezogen und in den Himmel hinauf gestoßen haben. Es möge den Leib Christi durchbohren, soll er gerufen haben - worauf prompt fünf Blutstropfen auf den Tisch der Spieler fielen. Den Gotteslästerer soll sofort der Teufel geholt haben. Der zweite Spieler soll beim Versuch, die Blutstropfen wegzuputzen, vom Schlag getroffen worden sein. Und der dritte soll, von Läusen zu Tode gemartert, auf der Schwelle des oberen Stadttores zusammengebrochen sein. Warum alle drei die gerechte Strafe Gottes ereilte, wo doch nur einer das Unglück herabbeschworen hatte, verstehe ich nicht. Aber bestimmt war keiner der Spieler Schuhmacher.
Auf der linken Seite des linken Seitenaltars steht ein Heiliger, dem das Werkzeug abhanden gekommen ist. Ich kann schwerlich behaupten, dies sei Crispins Bruder Crispinianus. Aber ich behaupte es. Aus dem einfachen Grund, weil er in der anderen Hand einen gleichen Palmwedel hält, wie beide Willisauer Crispins, die ich bisher entdeckte.
Warum allerdings die Brüder den gleichen Namen tragen, verstehe ich so wenig wie die Bestrafung aller drei Spieler. Vielleicht weil sie gleich aussahen und den gleichen Charakter hatten? crispus soll lateinisch Lockenkopf, der Kraushaarige oder der Fröhliche bedeuten. Aber der Ungereimtheiten sind noch mehr. Der Volksmund stellt die beiden Brüder gemeinhin als Diebe dar. Und das entbehrt jeder Grundlage. Verbockt hat dies kein Geringerer als Richard Wagner. Mit dem Lied der Schusterzunft im 3. Aufzug seines „Meister von Nürnberg“:
„Sankt Crispin, lobet ihn! / War gar ein heilig Mann, / zeigt, was ein Schuster kann. / Die Armen hatten gute Zeit, / macht ihnen warme Schuh; / und wenn ihm keiner 's Leder leiht, / so stahl er sich's dazu.“
Herr Wagner, oder sein Librettist, ist einem schnöden Verständnisfehler, einem Übersetzungs- oder Interpretationsfehler aufgesessen. Das Lied hat er nämlich nicht selbst erfunden, sondern einer altdeutschen Weisheit entlehnt:
"Crispin machte den Armen die Schuh / und stahl das Leder dazu".
stahl steht hier für stalt, und das heißt heute stellte. Die Weisheit sagt, dass Crispin den Armen Schuhe machte und ihnen auch das Leder dazu [zur Verfügung] stellte. Sprich: schenkte.

Montag, 19. Januar 2009

Unser Schutzpatron

In der Kirche, die mir sämtliches Tageslicht wegnimmt, habe ich den Schutzpatron der Schuhmacher entdeckt, den Heiligen Crispin. Er ist Linkshänder. Die etwas zu filigran abgespreizten Finger halten das schönste der Schuhmacherwerkzeuge: den Schuhmacherhammer. In der rechten Hand hält er so etwas wie einen Palmwedel. Er ist wohl von Beruf eher Heiliger als Schuhmacher.

Sonntag, 18. Januar 2009

Das Schweigen

Ich hatte beschlossen, zu schweigen, bis Morden und Verbrechen im Gaza-Streifen aufhören.

Donnerstag, 15. Januar 2009

NICHT auf der anderen Seite der Welt: KRIEG

Ein Aufruf unseres Freundes, Dr. Ala Al-Hamarneh, Geograph an der Uni Mainz, der Wolfgang und mich im Dezember so fürsoglich durch sein Heimatland Jordanien begleitet hat:

"Ab Morgen, den 16.02. ist die neue Ausgabe von Freitag mit drei Beiträgen (von Moshe Zuckermann, Uri Avnery und Sabine Kebir) zum israelischen Krieg in Gaza in den Kiosken zu kaufen. Kaufen, lesen, verteilen. Ala"

http://www.freitag.de/2009/03/09030602.php

Moshe Zuckermann
BANKROTTERKLäRUNG - Der Gaza-Krieg und Israels kritische Intelligenz

Sämtliche Kriege, die Israel in der Vergangenheit geführt hat, stellten seine kritische Intelligenz stets vor ein Problem. Zum einen war sie Teil eines Kollektivs im Ausnahmezustand und damit verpflichtet, an den vorhandenen Ängsten, Nöten und Hoffnungen teilzuhaben, zumal ja - so das traditionelle Klischee - die Musen ohnehin zu schweigen haben, wenn die Kanonen donnern. Zum anderen wusste aber gerade diese Intelligenz um den gravierenden Schuldanteil der israelischen Politik an der periodisch ausbrechenden Gewalt und ihrer Eskalation.
Es war eine Frage der intellektuellen Redlichkeit und des Selbstbildes als Platzhalterin des kritischen Bewusstseins, sich gängigen Konsenszwängen und ideologischen Vorgaben reflektiert zu widersetzen. Dabei war mit dem ersten Libanonkrieg 1982 und der einige Jahre später folgenden ersten Intifada eine neue Legitimationsmatrix für das Selbstverständnis eines kritischen Bewusstseins entstanden, quasi eine öffentliche Anerkennung des Überdrusses, mit dem die sich fortwährend perpetuierenden Gewaltzirkel des Nahostkonflikts reflektiert wurden. Eine Legitimation, die dann durch den Oslo-Prozess und die geschlossenen Verträge der neunziger Jahre zur vollen Entfaltung gelangen sollte. Mit dem abrupten Ende dieses Prozesses und dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 brach jedoch das Fundament dieses politisch-moralischen Kompasses im öffentlichen Diskurs kläglich zusammen. Die gesamte zionistische Linke schien aufzuatmen und sich an der eigenen Verwirrung nachgerade zu delektieren. Sie nahm die Erklärungen der israelischen Oslo-Politiker - es habe sich nunmehr erwiesen, dass es auf palästinensischer Seite keinen Gesprächspartner gebe - bereitwillig an. Man gefiel sich in der Rolle, des heimkehrenden verlorenen Sohns und wärmte sich wieder am nunmehr besonders kräftig lodernden nationalen Stammesfeuer.
Das kritische Bewusstsein wurde zu Grabe getragen bzw. an die marginalisierte israelkritische Linke delegiert. Dies fiel umso leichter, als die neuen Feinde - Hisbollah und Hamas - in der Tat weniger "sympathisch" waren, gleichsam untauglich für linke israelische Solidarität und gutmenschliche Empathie. Es machte sich eine Mentalität unter den Intellektuellen breit, sich selbst zu bemitleiden und als Opfer zu verklären. Dabei wurden das brutale Okkupationsregime und die systematische Unterdrückung der Palästinenser ebenso verdrängt wie der Verlust und die um sich greifende Entseelung jeglicher Friedensperspektive.
Und so stellt sich auch der Gaza-Krieg als bedrückender Bankrott der kritischen Intelligenz Israels dar. Was sich bereits im zweiten Libanonkrieg abzeichnete, ist nunmehr an seinen Kulminationspunkt gelangt: die selbst auferlegte Gleichschaltung und freiwillig angenommene Entmächtigung. Es wird allenthalben viel geschrieben, viel geredet, aber die kritische Reflexion über die Wirkzusammenhänge der neu ausgebrochenen Barbarei ist mit wenigen, auf eine Feigenblattfunktion reduzierten Ausnahmen kaum noch zu hören und zu lesen. Partei- und lagerübergreifend schweigt man im noch besten Fall, suhlt sich aber ansonsten genüsslich im patriotischen Konsens der vermeintlichen Alternativlosigkeit zum Nun-mal-so-Geschehenen. Jahrelang Erprobtes dominiert den öffentlichen Raum. Es ist eine Mischung aus medialer Selbstgefälligkeit und narzisstischer Betroffenheit, aus gewachsener Verhärtung gegenüber dem Leid der Zivilbevölkerung im bombardierten Feindesland, der offenen Feindseligkeit gegen die Araber im eigenen Land, einer im Kollektivkitsch aufgehenden Sentimentalität und "volkstümlichen" Überspanntheit. Überlagert wird dies alles von einer schier unerschöpflichen Selbstgerechtigkeit.
Früher oder später wird die Eule der Minerva wieder ihren Flug beginnen. Welche nahöstliche Dämmerung dabei eingebrochen sein wird, muss sich erst noch erweisen. Mit einem Ruhmesblatt der kritischen Intelligenz Israels wird es auf alle Fälle nichts zu tun haben.

Moshe Zuckermann ist ein israelischer Soziologe, er lehrt als Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv und ist Autor zahlreicher Bücher.
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http://www.freitag.de/2009/03/09030603.php

Uri Avnery
Ein Verbrechen gegen den Staat Israel
SCHLACHT UM DEN FERNSEHSCHIRM - Jede zerbombte Moschee in Gaza wurde der israelischen Propaganda zur Hamas-Basis, jedes Wohnhaus zum Waffenlager, jede Schule zum Terrorposten

Während des Zweiten Weltkrieges versuchte die Churchill-Bande, sich mitten unter der Londoner Bevölkerung zu verstecken, und missbrauchte Millionen von Bürgern als menschliche Schutzschilde. Die Deutschen waren so gezwungen, ihre Luftwaffe zu schicken und die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Eine solche Beschreibung würde jetzt in den Geschichtsbüchern stehen, hätten die Deutschen den Krieg gewonnen. Absurd? Nicht absurder als die täglichen Nachrichten unserer Medien, die so oft wiederholt werden, dass einem speiübel wird: die Hamas-Terroristen halten die Bewohner des Gazastreifens als "Geiseln" und benutzen Frauen und Kinder als "menschliche Schutzschilde".
In diesem wie in allen modernen Kriegen spielt die Propaganda eine große Rolle. Das reale Kräfteverhältnis zwischen der israelischen Armee mit ihren Kampfflugzeugen, Drohnen, Kriegsschiffen, Panzern, ihrer Artillerie einerseits und den paar tausend leicht bewaffneten Hamas-Kämpfern andererseits liegt bei 1000 : 1. Auf der politischen Ebene ist der Unterschied vielleicht noch größer - im Propagandakrieg ist er grenzenlos.Fast alle westlichen Medien wiederholten anfangs die offizielle israelische Lesart des Geschehens. Sie ignorierten die palästinensische Seite der Geschichte fast völlig, ebenso wie die täglichen Demonstrationen des israelischen Friedenslagers. Die Gründe der Regierung Olmert ("Der Staat muss seine Bürger gegen die Kassam-Raketen schützen") wurde als reine Wahrheit kolportiert. Der Blickwinkel von der anderen Seite, wonach die Kassams nur eine Antwort auf die Belagerung seien, die anderthalb Millionen Menschen im Gazastreifen an die Grenze des Verhungerns bringt, wurde nicht einmal erwähnt.Erst als die schrecklichen Szenen aus dem Gazastreifen auf den westlichen Bildschirmen erschienen, begann sich die öffentliche Meinung der Welt langsam zu ändern. Westeuropäische Fernsehkanäle zeigten zwar nach wie vor nur einen winzigen Teil des entsetzlichen Geschehens, das jeden Tag 24 Stunden lang auf dem arabischen Al-Djasira-Kanal zu sehen war, aber das Bild eines toten Babys in den Armen seines in Angst und Schrecken versetzten Vaters wirkte mächtiger als tausend elegant formulierte Sätze des israelischen Armeesprechers. Und das ist letztlich entscheidend.
Der Krieg - jeder Krieg - ist ein Konstrukt aus Lügen. Ob dies nun Propaganda oder psychologische Kriegführung genannt wird, jeder akzeptiert, dass es richtig ist, für sein Land zu lügen. Jeder, der die Wahrheit sagt, riskiert, als Verräter gebrandmarkt zu werden. Dabei überzeugt die Propaganda zuerst und vor allem den Propagandisten selbst. Und nachdem man sich selbst davon überzeugt hat, dass die Lüge die Wahrheit und die Verfälschung die Realität ist, kann man keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen. Ein Beispiel dafür lieferte die bisher erschreckendste Gräueltat dieses Krieges: das Beschießen der UN-Fakhura-Schule im Flüchtlingslager Jabaliya am 6. Januar.Kurz nachdem dieser Vorfall weltweit bekannt wurde, "enthüllte" die Armee, Hamas-Kämpfer hätten Mörser-Granaten von einem Vorplatz der Schule abgeschossen. Als Beweis veröffentlichte man eine Luftaufnahme, auf der tatsächlich die Schule und der Mörser zu sehen waren, dann jedoch musste der offizielle Armeelügner zugeben, das Foto sei älter als ein Jahr. Also eine Fälschung.
Später wurde behauptet, dass "unsere Soldaten aus dem Inneren der Schule" beschossen worden seien. Keinen Tag später musste die Armee dem UN-Personal gegenüber einräumen, auch dies sei eine Lüge. Keiner hatte aus der Schule geschossen, kein Hamas-Kämpfer war in der Schule, in der Dutzende verängstigter Flüchtlinge saßen. Aber das Eingeständnis wurde kaum mehr wahrgenommen, die israelische Öffentlichkeit war längst davon überzeugt, dass "aus der Schule geschossen wurde".
Gleiches geschah bei anderen Gräueltaten. Jedes Baby wurde im Augenblick seines Todes zu einem Hamas-Terroristen, jede zerbombte Moschee zur Hamas-Basis, jedes Wohnhaus zum Waffenlager, jede Schule zum Terrorposten, jedes zivile Regierungsgebäude zum "Herrschaftssymbol der Hamas". Auf diese Weise blieben die israelische Streitkräfte die "moralischste Armee der Welt". Und Hamas sollte aussehen wie ein Eindringling, der fremdes Land kontrolliert.Die israelischen Kriegsplaner taten alles, die Todesrate unter den eigenen Soldaten so gering wie möglich zu halten, da sie wussten, die Stimmung der Pro-Krieg-Öffentlichkeit würde sich ändern, sollte es Berichte über hohe eigene Verluste geben. So war es beim ersten (1982) und zweiten Libanonkrieg (2006). Ehud Barak, der in den ersten Tagen der Kampfhandlungen in den Umfragen hinzugewonnen hatte, wusste, seine Werte würden fallen, sobald die Bilder toter Soldaten die Fernsehschirme füllen.
Deshalb galt die Doktrin: Um Verluste unter unseren Soldaten zu vermeiden, soll alles, was ihnen im Weg steht, total zerstört werden. Man war also nicht nur bereit, 80 Palästinenser zu töten, um einen israelischen Soldaten zu retten - notfalls auch 800. So fiel die Entscheidung für eine besonders grausame Kriegführung.Eine Person ohne Phantasie wie Ehud Barak (sein Wahlslogan lautet: "Nicht ein netter Kerl, sondern ein Führer") kann sich nicht vorstellen, wie anständige Leute rund um den Globus auf Aktionen wie die Tötung ganzer Großfamilien, auf die Reihen von Jungen und Mädchen in Leichensäcken, auf Berichte über Leute, die tagelang zu Tode bluten, weil die Krankenwagen nicht zu ihnen durchgelassen werden, auf das Töten von Ärzten und Sanitätern, die auf dem Weg sind, Leben zu retten, reagieren. Die Fotos aus den Hospitälern mit den Toten, Sterbenden und Verletzten, die aus Platzmangel alle zusammen auf dem Fußboden liegen, haben die Welt erschüttert. Kein Argument hat die Kraft eines Bildes von einem verwundeten kleinen Mädchen, das dort auf dem Boden liegt, sich vor Schmerzen krümmt und "Mama! Mama!" schreit.
Die Kriegsplaner dachten, sie könnten die Welt daran hindern, solche Bilder zu sehen, wenn sie die Medien gewaltsam daran hindern, zum Schauplatz der Kämpfe zu gelangen. Die israelischen Journalisten waren zu ihrer Schande bereit, die Berichte und Fotos zu bringen, die sie vom Armeesprecher erhielten, als ob dies authentische Nachrichten seien. Ausländische Korrespondenten wurden gar nicht erst zugelassen, bis sie protestierten und dann zu kurzen überwachten Trips mitgenommen wurden. Aber in einem modernen Krieg kann eine sterile und fabrizierte Sicht die anderen Perspektiven nicht ausschließen, denn der Sender Al Djasira brachte seine Bilder rund um die Uhr und erreichte jedes Haus.
So wurde die Schlacht um den Fernsehschirm zu einer der entscheidenden Schlachten des Krieges. Hunderte Millionen Araber von Mauretanien bis zum Irak, mehr als eine Milliarde Muslime von Nigeria bis Indonesien sahen die Szenen von Al Djasira und waren geschockt. Sie sahen die Herrscher Ägyptens, Jordaniens und der Palästinensischen Autonomiebehörde als Kollaborateure Israels, das die Gräueltaten gegen die palästinensischen Brüder verübte.Leute, die dem "moralischem Irrsinn" verfallen sind, können die Motive normaler Menschen nicht verstehen und müssen ihre Reaktionen erraten. "Wie viele Divisionen hat der Papst?", spottete Stalin. "Wie viele Divisionen haben die Menschen mit Gewissen?" könnte Ehud Barak nun fragen.
Wie sich herausstellt, haben sie einige. Nicht sehr viele, sie reagieren auch nicht sehr schnell. Sie sind auch nicht stark und gut organisiert. Aber in einem bestimmten Moment, wenn die Gräueltaten überhand nehmen und die Massen der protestierenden Demonstranten zusammenkommen, kann dies einen Krieg entscheiden. Selbst wenn es der israelischen Armee gelingt, jeden Hamas-Kämpfer bis zum letzten Mann zu töten, selbst dann wird die Hamas siegen. Die Hamas-Kämpfer werden für die arabische Nation ein Vorbild sein - als Helden des palästinensischen Volkes, denen jeder junge Mann in der arabischen Welt nacheifern sollte. Die Westbank könnte nach diesem Krieg wie eine reife Frucht in die Hände von Hamas fallen, während die Fatah in einem Meer der Verachtung untergeht. Der Krieg endet mit einer noch aufrecht stehenden, wenn auch blutenden, aber unbezwungenen Hamas. Und das angesichts einer so mächtigen Militärmaschine wie der israelischen, es wirkt wie ein phantastischer Sieg, wie ein Sieg des Geistes über das Material.Am Ende wird dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen uns selbst gewesen sein, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz

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http://www.freitag.de/2009/03/09030601.php

Sabine Kebir
Weißer Phosphor, keine Bilder
BLOCKADEBRECHER "AL DJASIRA" - Den Bürgern im Westen werden bei diesem Krieg viele Eindrücke und Informationen vorenthalten

Die Live-Übertragungen der US-Sender CBS und ABC von den Schlachtfeldern des Indochina-Krieges Ende der sechziger Jahre haben weder die amerikanische Bevölkerung noch die Weltöffentlichkeit darin bestärkt, den Siegeswillen der damaligen Regierung Nixon zu teilen. Als eher kontraproduktiv erwies sich auch die im Irakkrieg (2003) und im letzten Libanonkrieg (2006) verfolgte Praxis, Korrespondenten mit der amerikanischen beziehungsweise israelischen Armee mitziehen zu lassen, ihnen aber bei diesem Embedded-Journalismus letztlich nur zu erlauben, Militärbriefings wiederzugeben. Das Publikum hielt vom Informationswert eines solcherart "eingebettetem" Journalismus nicht viel, der an Methoden des Ostblocks und übrig gebliebener Diktaturen erinnerte.
Diesmal nun hat Israel beschlossen, überhaupt keine Reporter ins Kriegsgebiet zu lassen, um so die weltweite Information und Debatte einigermaßen steuern und die Version vom "verzweifelten Verteidigungskrieg" verbreiten zu können. In Deutschland spielten viele Medien, allen voran die öffentlich-rechtlichen ARD und ZDF, in den ersten beiden Kriegswochen auch brav mit: Weil Israel eine Nachrichtensperre verhängt habe, gäbe es keine Bildberichte aus Gaza, wurde willig kolportiert. Bestenfalls konnte etwa die Arte-Redaktion dorthin telefonieren. Vom Leiden und Sterben der Zivilisten erfuhr man nur indirekt, weil die Hilfsorganisationen erklärten, es sei unmöglich, Nahrung und Medikamente nach Gaza zu bringen. Dabei wurde einfach unterschlagen, dass die dortige Bevölkerung nicht erst seit Beginn der Operation Gegossenes Blei, sondern seit über zwei Jahren aufgrund des israelisch-ägyptischen Boykotts keinen normalen Zugang zu unverzichtbaren Lebensgütern mehr hat.

"Al Djasira" sendet - und zwar live

Die westliche Nachrichtenpolitik wuchs sich insofern zum Skandal aus, weil jeder Sender problemlos aktuelle Bilder und Videofilme aus Gaza erwerben konnte, obwohl das Gebäude des palästinensischen Fernsehens schon am 27. Dezember, dem ersten Tage der Bombardements, zerstört wurde. Die direkte Berichterstattung vom Kriegsschauplatz fand dennoch statt. Der seit 1996 im Emirat Katar stationierte Sender Al Djasira, der schon vor zehn Jahren in der Lage war, direkte Bilder der Operation Desert Fox zu liefern - es waren Szenen des siebzigstündigen Bombardements der Vereinigten Staaten und Großbritanniens auf 100 militärische Ziele im Irak - sichert auch jetzt eine rundum direkte Berichterstattung aus Gaza und zwar mit Hilfe seit langem dort arbeitender Journalisten wie Samir Schamali und Hiba Akela.
Sie haben mit ihren Teams die Einschläge von Bomben aus der Perspektive der Bombardierten gezeigt und zwar live. Ergänzt durch dramatische Bilder aus Rettungsstationen und Hospitälern, wo die Verwundeten mittlerweile auf Tüchern oder nur auf den Armen ihrer Retter hereingetragen und oft auf dem Fußboden behandelt werden müssen. Fast ausschließlich Zivilisten - die Hälfte der Toten sind laut Al Djasira Frauen und Kinder.
Wer in Gaza Häuser, Straßen oder ganze Viertel verteidigt hat, konnte vom ersten Tag der Bodenoffensive an nicht mehr geborgen und behandelt werden - das Sterben der palästinensischen Kämpfer sah und sieht man auch bei Al Djasira nicht. Der Sender zeigt immer wieder die Klagen von Menschen aus dem Gaza-Streifen, die ihre Familien verloren haben, als Panzer in die Vororte von Gaza-City vorstießen.
Gezeigt werden im Programm dieses Kanals die pro-palästinensischen Demonstrationen in Kairo, Amman oder Damaskus ebenso wie in London, Paris oder Berlin, dazu die Statements von israelischen, arabischen und europäischen Politikern zum Kriegsgeschehen. Da Al Djasira auch die jeweils aktuellen Briefings von Premier Olmert, seiner Minister Barak und Zipi Livni in arabischer Übersetzung präsentiert sowie Berichte über die Einschläge von Kassam-Raketen in Israel, kann von Einseitigkeit keine Rede sein. Dass die stets von Neuem schrecklichen Bilder aus den Bombenzonen in Gaza emotional aufwühlen, ist nicht Schuld des Senders.

Das westliche Publikum wird von den Realitäten dieses Feldzugs abgeschirmt
Eine bewusst einseitige Berichterstattung ist diesmal eher dem Westen anzulasten, der 1998 die Bildsequenzen von Al Djasira über Desert Fox noch gern übernommen hatte oder im Oktober 2001 die Aufnahmen von US-Luftangriffen auf Kabul, bei denen die Sendestation und Redaktionsräume des arabischen Senders zu guter Letzt zerstört wurden. Jetzt soll das Fernsehpublikum in Deutschland, Österreich oder Italien vor den Realitäten dieses Feldzugs offenbar abgeschirmt werden. Zwar wird verbal eingeräumt, dass es in Gaza eine humanitäre Katastrophe gäbe, aber im gleichen Atemzug erklärt, dies sei von den Palästinensern selbst verschuldet. Was geschieht - wird unterschwellig suggeriert - sei die Strafe dafür, sich nicht widerstandslos in einem Freiluftgefängnis aushungern zu lassen.
Der nur durch seine eigenen Medien informierte Bürger in West- und Mitteleuropa hatte zu Beginn der Woche noch nichts davon erfahren, dass die israelische Armee seit dem 10. Januar über Gaza-City und dem Lager Jebaliya Bomben abwirft, die weißen Phosphor enthalten. Der Einsatz dieser starken Rauch entwickelnden Waffen dient der Deckung vorrückender Truppen, die dadurch selbst keine Sichtbehinderung erfahren. Der Einsatz dieser Waffen ist international geächtet, sobald durch die stark ätzenden Substanzen auch Zivilisten getroffen werde können. Seit dieser Woche haben nun die Hospitäler in Gaza eine erhebliche Zahl von Frauen und Kindern zu behandeln, die mit schwer verätzten Augen eingeliefert wurden. Andere Verletzte litten unter schweren Schusswunden, die von Streubomben herrühren sollen. Ärzte und Helfer in den Rettungsstationen, die ohnehin kaum noch Medikamente haben, erklärten gegenüber Al Djasira, dass ihnen diese Art von Verwundungen vollkommen neu seien und sie keinerlei Behandlungsmöglichkeiten hätten.
Um die israelische Version vom ordentlich geführten und legitimen Verteidigungskrieg zu stützen, werden in deutschen Medien auffällig wenig Menschen und Meinungen präsentiert, die daran erinnern, dass die Entwicklungen im Konflikt mit den Palästinensern jetzt allem zuwider laufen, was die Friedensforschung seit Jahrzehnten als Allgemeingut etabliert hat. Die permanente militärische Abstrafung eines Gegners führt in der auf Gleichheit aller Menschen orientierenden Moderne nicht zur Unterwerfung oder gar zum Frieden, sondern provoziert Märtyrertum und Terrorismus. Friedliche Nachbarschaft von Völkern kann sich nur durch die gegenseitige Anerkennung gleicher Rechte entwickeln - also sollte den Palästinensern ein lebensfähiger, rundum souveräner Staat zugestanden sein.

Gaza-Chronik

September 2005 - Abzug
Israel zieht nach 38 Jahren Besatzung die Armee aus dem Gaza-Streifen zurück, auch die Siedlungen werden geräumt. Gleichzeitig wird das nur 360 Quadratkilometer große Territorium völlig abgeriegelt, nicht nur zu Lande, sondern gleichfalls durch eine See- und Luftblockade. Auch für israelische Zivilisten gilt nun ein Einreise- und Aufenthaltsverbot.

Januar 2006 - Wahlsieg
Wie im Westjordanland siegt Hamas bei den ersten freien Wahlen nach den Autonomieabkommen von 1993/94 auch im Gaza-Streifen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit und erhebt Anspruch auf die Regierungsbildung.

Mai/Juni 2007 - Bruderkrieg
Nach einem Putschversuch der Fatah gegen die von Hamas geführte Regierung kommt es zu einem mit Waffengewalt ausgetragenen innerpalästinensischen Konflikt. Im Ergebnis herrscht die Fatah unter Mahmud Abbas in der Westbank - die Hamas-Führung als Regierung in Gaza.

September 2007 - Feindesland
Das israelische Kabinett erklärt den Gaza-Streifen zum "feindlichen Gebiet" und kürzt die bereits limitierten Strom-, Lebensmittel- und Treibstofflieferungen an die Zivilbevölkerung.

November 2007 - US-Bürgschaft
Israel und die Fatah vereinbaren in Annapolis (USA) eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Der Gastgeber USA verbürgt sich für eine bis Ende 2008 zu treffende "Rahmenvereinbarung" für eine Zwei-Staaten-Lösung, zu der es jedoch nicht kommt.

Januar 2008 - Totalblockade
Israel riegelt den Gaza-Streifen so hermetisch ab, dass eine vollständige Blockade die Folge ist und die Stromversorgung für 800.000 Palästinenser zusammenbricht. Kurz darauf stürmen Tausende Gaza-Palästinenser die Grenze zum Nachbarland Ägypten und decken sich eine Woche lang mit Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten ein.

März 2008 - Generalprobe
Massive Kämpfe im Gaza-Streifen mit 125 Toten auf palästinensischer Seite und zwei Gefallenen der israelischen Armee - die Operation Heißer Winter fordert in Gaza innerhalb von 48 Stunden die höchste Opferzahl seit dem Sechs-Tage-Krieg vom 1967.

April 2008 - Kommandoaktion
Hamas-Anschlag auf den Grenzübergang Kerem Schalom, bei dem drei der Angreifer getötet und 16 israelische Soldaten verletzt werden. Bei einer Kommandoaktion der Luftwaffe Israels werden daraufhin zehn mutmaßlich militante Palästinenser gezielt getötet.

Juni 2008 - Waffenruhe
Die Regierung Olmert und zwölf palästinensische Organisationen aus dem Gaza-Streifen, darunter Hamas, vereinbaren eine sechsmonatige Waffenruhe, von deren Verlauf es abhängen soll, ob die Abriegelung der Region gelockert wird.

August 2008 - Flucht
Nachdem die Kampfhandlungen zwischen verschiedenen palästinensischen Fraktionen wieder ausbrechen, fliehen die noch im Gaza-Streifen verbliebenen Reste der Fatah-Führung in die Westbank.

November 2008 - Tunnelkampf
Trotz der Waffenruhe kommt es zu einem gezielten Militäreinsatz Israels gegen einen Tunnel in der Nähe der Grenze zu Ägypten, bei dem sechs Palästinenser getötet werden.

Dezember 2008 - Kriegsausbruch
Hamas erklärt, der Waffenstillstand werde nach seinem Ablauf am 19. Dezember nicht verlängert, da sich an der Isolation des Gaza-Streifens durch Israel nichts geändert habe. Hamas beginnt kurz darauf mit dem Beschuss südisraelischer Grenzstädte, die israelische Luftwaffe am 27. Dezember mit der Bombardierung des Gaza-Streifens - die erste Phase der Operation Gegossenes Blei.

Auf der anderen Seite der Welt: Schlaf

Schnee ist gefallen in der Nacht und mir scheint, sämtliche Ortseingangs- und -ausgangstafeln, alle Wegweiser und anderen Hinweisschilder wie Umleitungsankündigungen oder gegliederte Vorwegweiser in der Torfstichweiherlandschaft Ostergau sind heute früh nicht mehr lesbar.

Mittwoch, 14. Januar 2009

Von der anderen Seite der Schrift

Die Schuhfrau hat mir ein erstklassiges Bike besorgt. Sie weiß, dass ich nicht nur gute Schuhe brauche, sondern auch ein gutes Fahrrad. Ich fuhr ins Ostergau, um den Wasserlauf der Rot zu beobachten. Zu meiner großen Verblüffung fließt der Bach von Osten in und durch das Ostergau und mündet beim Hof Rossgass in die Seewaag, die machmal auch Seewag geschrieben wird. Am Oberlauf, zwischen Geiss und der Quelle beim Gehöft Landig, heißt der Rotbach Schwarzenbach. Am Unterlauf, nach dem Ostergauermoos, auf dem kurzen Stück bis zur Mündung in die Seewag, heißt der Rotbach Marbach. Das Ostergau hat nichts mit Ostern zu tun. Ob die Seewag etwas mit Waage zu tun hat, weiß ich nicht. Ich fuhr in einem eleganten Bogen hoch nach Wüschiswil oder Wüschiwil, kam ziemlich außer Atem, sah die Abzweigung nach Stettenbach und verzichtete darauf, ihr zu folgen. Mir reichte das Wort auf dem Wegweiser. Auch diesen Ort nennt die Karte anders: Stätebach. Also fuhr ich weiter Richtung Grosswangen, weil es so schön bergab ging. Ich sah dieselbe Landschaft vor mir liegen, die uns am Sonntag der Nebel vorenthalten hatte. Ich erreichte Huben (Ortseingangstafel) bzw. Huebe (Karte), das Himmelreich bzw. Himelrich, fuhr an Ei, Schutz und Moos vorbei, bis ich hinter Ettiswil an die Wigger stieß, die mich nach Willisau zurück führte. In der Grundmatt verließ ich sie, folgte der Enziwigger bis zum Obertor, durch das ich auf die Innenseite der Stadtmauer und vor meine Mühlentür gelangte. Oben in meinem Atelier angekommen, das meeresgrundblaue Bike nahm ich mit dem Lift in das Stockwerk über den Buchstaben an der Fassade mit, war ich verwirrter denn je.
Wie soll ich nun die Ortsnamen in meinem Manuskript handhaben?

Dienstag, 13. Januar 2009

Auf der anderen Seite der Welt: Sonne

Der Garagist (ich könnte ihn im Gegensatz zur Schuhfrau den Reifenmann nennen) ruft an und fragt, wie es mir gehe in meinem Schatten-Atelier. Das Wetter ist gut. Ich nehme den Zug um 12 Uhr. Er erwartet mich am Bahnhof Wolhusen. Wir fahren ins Entlebuch (Modellregion: UNESCO Biosphäre oder der Wilde Westen von Luzern), dann der Waldemme entlang in die Höhe, lassen den Toyota am Ende der Strasse stehen, gondeln mit der Bahn auf die Rossweid und essen auf 1465 m üM zu Mittag.

Montag, 12. Januar 2009

Außerhalb des Textes

Wir sind fleißig. Die Verlegerin, die Grafikerin, die Schuhfrau und ich. Wir sitzen um den Tisch in meinem Atelier in der Mühle und finden das Bild, in das wir meinen Text einpacken. Sprich: den Buchumschlag.

Sonntag, 11. Januar 2009

Auf der anderen Seite der Welt: Nebel

Die Schuhfrau und ich schreiten Seite 26 bis 38 des Manuskripts ab. Das kostet uns viereinhalb Stunden und einen erheblichen Energieaufwand. Wir bewegen uns mehrheitlich gerade unterhalb der Nebelobergrenze. Die Tannen sind voller Biecht (wer wissen will, was das ist, warum es auch "Gjäch", "Picki" oder "Böimbockillär" heißt, und wie es ungeachtet der uneinheitlichen Namen einheitlich aussieht, schaue hier: http://meteo.sf.tv/sfmeteo/wwn.php?id=200712251240) und unsere Haare bald auch. Das bedeutet, dass die Baumrinden und unsere Kopfhaut mindestens -8° kalt sind. Schwer zu sagen, ob mein Text - romantische Schneehügelbilder und tunnelartige Gedankengänge meiner jugendlichen Figur - in diese Landschaft passt. Um überhaupt irgendwo anzukommen, halten wir, die Schuhfrau und ich, uns in der Nebelrandzone vernünftigerweise nicht an mein Manuskript. Sondern an die Blätter 1149 und 1129 der Karten des Bundesamtes für Landestopographie. Und an die offiziellen Markierungen der Wanderwege. An gelbe Wegweiser und gelbe Richtungszeiger, die in regelmäßigen Abständen an fest verankerten Eisenstangen durch eine vermessene Welt führen. Oder an die gelben Pfeile und gelben Rhomben an den kalten Baumrinden.

Samstag, 10. Januar 2009

Schallmauern

Ich lebe in der alten Stadtmauer. Durch alle meine Fenster sehe ich in die alte Stadt hinein. Da ich die Kirchenglocken nicht höre, versuchte ich, einen eigenen Schallraum um mich herum zu bilden. Die Stille ist manchmal schwer erträglich, so wie die Einsamkeit oder das unsägliche Geschwätz im Radio. Schweizer Hochdeutsch, BBC, Südwestrundfunk, Radio Mainz oder Antenne Bayern - alles geht früher oder später auf die Nerven. Dann drücke ich auf AUTO OFF und das Ganze fängt mit der Stille wieder von vorne an. Gestern fand ich plötzlich Rete Uno, früher Monte Ceneri. Huch! Und abends gönne ich mir eine halbe Stunde Schwyzerörgeli und Jodel, dachte ich erfreut. Und danach lege ich mich zur Ruhe.

Weit gefehlt. Gestern Abend wurde die Willisauer Fasnacht von der Karnöffelzunft eröffnet. Heute spielt von 19 Uhr bis 3 Uhr in der Nacht die Guuggenmusik Schlössliruugger. Ja, meine Fenster gehen allesamt in die Altstadt hinein. Das Haus, die Mühle, die Stadtmauer, in der ich wohne, ist, wie bereits gesagt, nach innen gut isoliert. Aber ein Guuggertreffen in einer engen Hauptgasse, die oben und unten von einem Stadttor abgeschlossen wird, bildet eine Schalllawine. Und die nimmt alles mit.

Freitag, 9. Januar 2009

Die Durchlässigkeit des Himmels

Am Mittag reißt die Nebeldecke auf und ich sehe zum ersten Mal die Sonne in der Schweiz. Ich steige durch den Guonwald hoch auf Vorberg. Laufe über Mätteberg auf die Mörisegg. Kann mich nicht sattsehen an diesem Himmel, der hier über den Napfabdachungen fast so weit ist wie über der Meldorfer Bucht. Ich befinde mich auf 737 m üM. Es ist kalt und die Sonne verbrennt das, was sie kann. Meine Nasenspitze und die Wangenhaut unterhalb der Brille.

Die Durchlässigkeit von Mauern: die Außenseite der Stadtmauer

Ein Aquarell von 1911 zeigt, dass auf der Westseite der Stadtmühle, also außerhalb der Stadtmauer früher schon Ökonomiegebäude standen. Im heutigen Anbau sitzt unten die Technik, in der Mitte die Musik-Instrumentensammlung und oben, ebenerdig, lichtdurchflutet der Vortrags-, Ausstellungs- oder Konzertsaal.

Bild ausgeliehen von http://www.willisau.ch/

Die Durchlässigkeit von Mauern: Die Innenseite der Stadtmauer



Ich wohne über den Buchstaben des Wortes STADTMÜHLE.

Bild ausgeliehen von http://www.willisau.ch/

Donnerstag, 8. Januar 2009

Von der anderen Seite des Verstandes

Natürlich haben die in subtiler Kleinarbeit freigelegten, zum Teil nur noch bruchstückhaft vorhandenen Fresken der Kapelle St. Niklaus auf dem Berg nichts mit der lokalen Geschichte zu tun. Weder mit der Gründung der Mini- oder Kümmerstadt durch die Hasenburger Brüder Walter, Markward und Heimo, noch mit dem Verrat von Herzog Leopold III an Gräfin Mara, noch mit dem Sempacherkrieg, noch mit dem Aussterben der Hasenburger im Mannesstamm.
Das Martyrium der 10 000 Ritter gehört auf einen anderen Berg. An die Grenze der heutigen Türkei zu Armenien. Oder in eine alte Auflage eines Heiligenlexikons. Achatius, der Dominikanerlegende nach Anführer jener Zehntausend zum Glauben Bekehrter, die zur Zeit des Kaisers Hadrian auf dem Berg Ararat hingerichtet wurden, überlebte eine Kalenderreform nicht - sein Name wurde 1969 aus dem Martyrologium Romanum gestrichen.

Auf der anderen Seite der Welt: Wasser

Wo eine Mühle ist, ist auch Wasser. Ich wundere mich, seit ich hier bin, also seit drei Tagen, dass in der Stadt aus unzähligen Brunnenrohren Wasser läuft. Ich wundere mich. Mir wurde lange vor meiner Ankunft per email mitgeteilt, dass in diesem Winter ungewöhnlich viel Schnee gefallen sei. Und dass die Temperaturen sich seit Wochen auch tagsüber oft im zweistelligen Minusbereich bewegen.
Warum also läuft unablässig Wasser aus allen Brunnen der Stadt? Warum fließt der Mülibach? Warum die Enziwigger? Warum die Buochwigger?

Vor etwas mehr als einer Woche kamen wir aus der Wüste zurück. Aus einem Land, welches an seiner westlichen Grenze ein Totes Meer beheimatet. Auch dieser eigentlich salzhaltige Binnensee trocknet allmählich aus. Aus einem Land, das sich einen biblischen Fluss und viele biblische Stätten mit seinem aggressiven Nachbarn teilt. In den Jordan wird vor den Stellen, die Touristen zugänglich gemacht sind, Wasser gekippt. Damit die Illusion aufrecht erhalten werden kann, es handle sich hierbei um einen Fluss. Und das Jordantal sei eine blühende Landschaft. Jordanien hat, aus welchen Gründen auch immer, zugestimmt, dass Israel 80% des Wassers aus dem Grenzfluss zusteht.

Jetzt lebe ich plötzlich in einer Mühle. In der Stadtmühle. Und wo Mühle, da Wasser. Die Mühle stand wahrscheinlich schon, bevor die Stadtmauern errichtet waren bzw. bevor der Flecken Stadtrechte erworben hatte. Sie war zuerst Mühle, dann Stadtmühle und Teil der Stadtmauer. Ich lebe hinter fünf mittelalterlichen Fenstern einer ehemaligen Stadtmauer. Es dringt kaum Tageslicht in mein großes Zimmer, das seit der Stilllegung und Modernisierung der Mühle Atelier heißt. Das natürliche Licht nimmt mir die mächtige Stadtkirche weg. Ich lebe Tag und Nacht mit elektrischem Licht. So wie aus dem alten Rohr des unscheinbaren Brunnens, der an der Müligass zwischen der Mühle und der Stadtkirche steht, Tag und Nacht Wasser fließt. Ich weiß nicht woher. Und ich weiß nicht wohin. Und ich weiß erst recht nicht warum oder wozu.

Mittwoch, 7. Januar 2009

Von der anderen Seite der Telefonleitung

W. verkündet zur guten Nacht vom Wattenmeer die tröstliche These, der Weg führe einen oft nicht dahin wo man sein wollte, sondern dahin wo man sein sollte.

Auf der anderen Seite des Hügels: St. Niklaus auf dem Berg

Mein erster richtiger Spaziergang. Es ist kalt und ich bin unsicher auf den Füßen. Ich traue dem Schnee nicht. Ich weiss nicht, was sich unter dem Weiss verbirgt. Ich kann mich in dieser Welt nicht blamieren und mir bereits am zweiten Tag die Knochen brechen. Meine Schwester erzählte am Telefon, ihre Freundin habe sich am Wochenende den rechten Oberarm gebrochen und liege im Krankenhaus. Nach der Operation habe sie einen ganzen Tag lang nur gekotzt. Das kann ich mir nicht leisten. Das sind Menschen, die ihr ganzes Leben in diesem Land verbracht haben. Sie behaupten, so einen Winter hätten sie schon lange nicht mehr erlebt.
Ich wollte zum Anfang meines Romans laufen. Aber ich kam vom Weg ab, landete an der Buochwigger oder Buchwigger (die Angaben auf den Karten sind sich nicht einig), befand mich wieder im Tal, im Baumgärtli und Rütsch, am vorderen Chrüterbunig (ein Wort, das ich im Text noch nachtragen muss) und kehrte um. Der Rückweg führte mich zur Burgkapelle St. Niklaus auf dem Berg. Sie war offen und ich stand plötzlich staunend vor einem grossen Fresko, dem "Wandbild mit dem Martyrium der 10 000 Ritter". Angeblich stammt es aus dem 16. Jahrhundert, aber wer hier wen abmetzelt, ist mir nicht klar. Die Lehensherren die Pfänder? Oder die Pfandnehmer die Pfandgeber? Die zu Wohlstand gelangten Freiherren von Hasenburg - die faktischen Burgherren von Alt-Willisau, die eigentlich aus Böhmen kamen und Zajíc z Hazmburka hießen - die in Geldnöten steckenden Habsburger? Oder umgekehrt?

Dienstag, 6. Januar 2009

Auf der anderen Seite der Welt: Teigaffen

Es ist alles anders. Die Stille ist anders. Die Kälte ist anders. Es gibt keinen Wind. Ich höre nichts. Kein Pfeifen durch die Ritzen. Keine Kirchenglocken. Obwohl der Kirchturm vor meinem Fenster steht. Das Haus, die Mühle ist uralt. Außen sieht die Fassade aus eh und je (= ungefähr 700 Jahre), nur der Verputz ist gerade erneuert worden. Innen schützt mich Doppelverglasung. Isolierung. Isolation. Schalldichte. Winddichte. Temperatursturzdichte. In den nächsten Tagen soll es noch kälter werden.
Ich kaufte heute früh Napf-Anke, Schloss Wyher Käse, Luzerner Eier, Zentralschweizer Milch und die Napfkräuterteemischung "Wintertraum". Nur der Glarner Schabziger passt nicht ganz ins Napfbergland, aber den wollte meine Seele unbedingt haben. Das Brot gefiel den Augen, länglich gedreht, seinen Namen bekomme ich nicht mehr über die Lippen. Ich verhasple mich andauernd. Den halben Nachmittag spielte ich am Radio herum. Erleichtert fand ich gegen Abend BBC. Meine Ohren leiden. Nachrichten in Schweizer Hochdeutsch sind heute noch unerträglich. Dialekt schlucke ich. Aktiv fehlen mir rundherum Wörter. Verstehen kann ich alles, sagen so gut wie nichts.
Nach der Ankunft gestern Abend war ich mit der Schuhfrau im Mohren essen. Der Mohren ist eine Schwesternwirtschaft. Acht Schwestern führen das Gasthaus. Zum Fisch oder Fleisch der Hauptgerichte konnten wir auf der Speisekarte wählen zwischen Kartoffeln, Reis oder "Teigaffen".
Dieses Wort, sagte ich, vermeintlich verwirrt von der langen Reise in die Berge, habe ich noch nie aufgeschrieben gesehen. Die Schuhfrau sagte: "Ich auch nicht!" Sie hatte eine genau so lange Reise hinter sich. Sie war in Menznau in den Zug Richtung Flughafen Kloten gestiegen, als ich mich in Hamburg Aberglaubenfrei auf Sitz 13F von AB 8780 setzte und meine gefütterten Kandahars von den Füßen streifte.

angekommen und ausgeschlafen

Bin in der Mühle angekommen und habe zum ersten Mal in der Mühle ausgeschlafen.