Ein Aufruf unseres Freundes, Dr. Ala Al-Hamarneh, Geograph an der Uni Mainz, der Wolfgang und mich im Dezember so fürsoglich durch sein Heimatland Jordanien begleitet hat:
"Ab Morgen, den 16.02. ist die neue Ausgabe von Freitag mit drei Beiträgen (von Moshe Zuckermann, Uri Avnery und Sabine Kebir) zum israelischen Krieg in Gaza in den Kiosken zu kaufen. Kaufen, lesen, verteilen. Ala"
http://www.freitag.de/2009/03/09030602.phpMoshe Zuckermann
BANKROTTERKLäRUNG - Der Gaza-Krieg und Israels kritische Intelligenz
Sämtliche Kriege, die Israel in der Vergangenheit geführt hat, stellten seine kritische Intelligenz stets vor ein Problem. Zum einen war sie Teil eines Kollektivs im Ausnahmezustand und damit verpflichtet, an den vorhandenen Ängsten, Nöten und Hoffnungen teilzuhaben, zumal ja - so das traditionelle Klischee - die Musen ohnehin zu schweigen haben, wenn die Kanonen donnern. Zum anderen wusste aber gerade diese Intelligenz um den gravierenden Schuldanteil der israelischen Politik an der periodisch ausbrechenden Gewalt und ihrer Eskalation.
Es war eine Frage der intellektuellen Redlichkeit und des Selbstbildes als Platzhalterin des kritischen Bewusstseins, sich gängigen Konsenszwängen und ideologischen Vorgaben reflektiert zu widersetzen. Dabei war mit dem ersten Libanonkrieg 1982 und der einige Jahre später folgenden ersten Intifada eine neue Legitimationsmatrix für das Selbstverständnis eines kritischen Bewusstseins entstanden, quasi eine öffentliche Anerkennung des Überdrusses, mit dem die sich fortwährend perpetuierenden Gewaltzirkel des Nahostkonflikts reflektiert wurden. Eine Legitimation, die dann durch den Oslo-Prozess und die geschlossenen Verträge der neunziger Jahre zur vollen Entfaltung gelangen sollte. Mit dem abrupten Ende dieses Prozesses und dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 brach jedoch das Fundament dieses politisch-moralischen Kompasses im öffentlichen Diskurs kläglich zusammen. Die gesamte zionistische Linke schien aufzuatmen und sich an der eigenen Verwirrung nachgerade zu delektieren. Sie nahm die Erklärungen der israelischen Oslo-Politiker - es habe sich nunmehr erwiesen, dass es auf palästinensischer Seite keinen Gesprächspartner gebe - bereitwillig an. Man gefiel sich in der Rolle, des heimkehrenden verlorenen Sohns und wärmte sich wieder am nunmehr besonders kräftig lodernden nationalen Stammesfeuer.
Das kritische Bewusstsein wurde zu Grabe getragen bzw. an die marginalisierte israelkritische Linke delegiert. Dies fiel umso leichter, als die neuen Feinde - Hisbollah und Hamas - in der Tat weniger "sympathisch" waren, gleichsam untauglich für linke israelische Solidarität und gutmenschliche Empathie. Es machte sich eine Mentalität unter den Intellektuellen breit, sich selbst zu bemitleiden und als Opfer zu verklären. Dabei wurden das brutale Okkupationsregime und die systematische Unterdrückung der Palästinenser ebenso verdrängt wie der Verlust und die um sich greifende Entseelung jeglicher Friedensperspektive.
Und so stellt sich auch der Gaza-Krieg als bedrückender Bankrott der kritischen Intelligenz Israels dar. Was sich bereits im zweiten Libanonkrieg abzeichnete, ist nunmehr an seinen Kulminationspunkt gelangt: die selbst auferlegte Gleichschaltung und freiwillig angenommene Entmächtigung. Es wird allenthalben viel geschrieben, viel geredet, aber die kritische Reflexion über die Wirkzusammenhänge der neu ausgebrochenen Barbarei ist mit wenigen, auf eine Feigenblattfunktion reduzierten Ausnahmen kaum noch zu hören und zu lesen. Partei- und lagerübergreifend schweigt man im noch besten Fall, suhlt sich aber ansonsten genüsslich im patriotischen Konsens der vermeintlichen Alternativlosigkeit zum Nun-mal-so-Geschehenen. Jahrelang Erprobtes dominiert den öffentlichen Raum. Es ist eine Mischung aus medialer Selbstgefälligkeit und narzisstischer Betroffenheit, aus gewachsener Verhärtung gegenüber dem Leid der Zivilbevölkerung im bombardierten Feindesland, der offenen Feindseligkeit gegen die Araber im eigenen Land, einer im Kollektivkitsch aufgehenden Sentimentalität und "volkstümlichen" Überspanntheit. Überlagert wird dies alles von einer schier unerschöpflichen Selbstgerechtigkeit.
Früher oder später wird die Eule der Minerva wieder ihren Flug beginnen. Welche nahöstliche Dämmerung dabei eingebrochen sein wird, muss sich erst noch erweisen. Mit einem Ruhmesblatt der kritischen Intelligenz Israels wird es auf alle Fälle nichts zu tun haben.
Moshe Zuckermann ist ein israelischer Soziologe, er lehrt als Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv und ist Autor zahlreicher Bücher.
--------------------------------------------------
http://www.freitag.de/2009/03/09030603.phpUri Avnery
Ein Verbrechen gegen den Staat Israel
SCHLACHT UM DEN FERNSEHSCHIRM - Jede zerbombte Moschee in Gaza wurde der israelischen Propaganda zur Hamas-Basis, jedes Wohnhaus zum Waffenlager, jede Schule zum Terrorposten
Während des Zweiten Weltkrieges versuchte die Churchill-Bande, sich mitten unter der Londoner Bevölkerung zu verstecken, und missbrauchte Millionen von Bürgern als menschliche Schutzschilde. Die Deutschen waren so gezwungen, ihre Luftwaffe zu schicken und die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Eine solche Beschreibung würde jetzt in den Geschichtsbüchern stehen, hätten die Deutschen den Krieg gewonnen. Absurd? Nicht absurder als die täglichen Nachrichten unserer Medien, die so oft wiederholt werden, dass einem speiübel wird: die Hamas-Terroristen halten die Bewohner des Gazastreifens als "Geiseln" und benutzen Frauen und Kinder als "menschliche Schutzschilde".
In diesem wie in allen modernen Kriegen spielt die Propaganda eine große Rolle. Das reale Kräfteverhältnis zwischen der israelischen Armee mit ihren Kampfflugzeugen, Drohnen, Kriegsschiffen, Panzern, ihrer Artillerie einerseits und den paar tausend leicht bewaffneten Hamas-Kämpfern andererseits liegt bei 1000 : 1. Auf der politischen Ebene ist der Unterschied vielleicht noch größer - im Propagandakrieg ist er grenzenlos.Fast alle westlichen Medien wiederholten anfangs die offizielle israelische Lesart des Geschehens. Sie ignorierten die palästinensische Seite der Geschichte fast völlig, ebenso wie die täglichen Demonstrationen des israelischen Friedenslagers. Die Gründe der Regierung Olmert ("Der Staat muss seine Bürger gegen die Kassam-Raketen schützen") wurde als reine Wahrheit kolportiert. Der Blickwinkel von der anderen Seite, wonach die Kassams nur eine Antwort auf die Belagerung seien, die anderthalb Millionen Menschen im Gazastreifen an die Grenze des Verhungerns bringt, wurde nicht einmal erwähnt.Erst als die schrecklichen Szenen aus dem Gazastreifen auf den westlichen Bildschirmen erschienen, begann sich die öffentliche Meinung der Welt langsam zu ändern. Westeuropäische Fernsehkanäle zeigten zwar nach wie vor nur einen winzigen Teil des entsetzlichen Geschehens, das jeden Tag 24 Stunden lang auf dem arabischen Al-Djasira-Kanal zu sehen war, aber das Bild eines toten Babys in den Armen seines in Angst und Schrecken versetzten Vaters wirkte mächtiger als tausend elegant formulierte Sätze des israelischen Armeesprechers. Und das ist letztlich entscheidend.
Der Krieg - jeder Krieg - ist ein Konstrukt aus Lügen. Ob dies nun Propaganda oder psychologische Kriegführung genannt wird, jeder akzeptiert, dass es richtig ist, für sein Land zu lügen. Jeder, der die Wahrheit sagt, riskiert, als Verräter gebrandmarkt zu werden. Dabei überzeugt die Propaganda zuerst und vor allem den Propagandisten selbst. Und nachdem man sich selbst davon überzeugt hat, dass die Lüge die Wahrheit und die Verfälschung die Realität ist, kann man keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen. Ein Beispiel dafür lieferte die bisher erschreckendste Gräueltat dieses Krieges: das Beschießen der UN-Fakhura-Schule im Flüchtlingslager Jabaliya am 6. Januar.Kurz nachdem dieser Vorfall weltweit bekannt wurde, "enthüllte" die Armee, Hamas-Kämpfer hätten Mörser-Granaten von einem Vorplatz der Schule abgeschossen. Als Beweis veröffentlichte man eine Luftaufnahme, auf der tatsächlich die Schule und der Mörser zu sehen waren, dann jedoch musste der offizielle Armeelügner zugeben, das Foto sei älter als ein Jahr. Also eine Fälschung.
Später wurde behauptet, dass "unsere Soldaten aus dem Inneren der Schule" beschossen worden seien. Keinen Tag später musste die Armee dem UN-Personal gegenüber einräumen, auch dies sei eine Lüge. Keiner hatte aus der Schule geschossen, kein Hamas-Kämpfer war in der Schule, in der Dutzende verängstigter Flüchtlinge saßen. Aber das Eingeständnis wurde kaum mehr wahrgenommen, die israelische Öffentlichkeit war längst davon überzeugt, dass "aus der Schule geschossen wurde".
Gleiches geschah bei anderen Gräueltaten. Jedes Baby wurde im Augenblick seines Todes zu einem Hamas-Terroristen, jede zerbombte Moschee zur Hamas-Basis, jedes Wohnhaus zum Waffenlager, jede Schule zum Terrorposten, jedes zivile Regierungsgebäude zum "Herrschaftssymbol der Hamas". Auf diese Weise blieben die israelische Streitkräfte die "moralischste Armee der Welt". Und Hamas sollte aussehen wie ein Eindringling, der fremdes Land kontrolliert.Die israelischen Kriegsplaner taten alles, die Todesrate unter den eigenen Soldaten so gering wie möglich zu halten, da sie wussten, die Stimmung der Pro-Krieg-Öffentlichkeit würde sich ändern, sollte es Berichte über hohe eigene Verluste geben. So war es beim ersten (1982) und zweiten Libanonkrieg (2006). Ehud Barak, der in den ersten Tagen der Kampfhandlungen in den Umfragen hinzugewonnen hatte, wusste, seine Werte würden fallen, sobald die Bilder toter Soldaten die Fernsehschirme füllen.
Deshalb galt die Doktrin: Um Verluste unter unseren Soldaten zu vermeiden, soll alles, was ihnen im Weg steht, total zerstört werden. Man war also nicht nur bereit, 80 Palästinenser zu töten, um einen israelischen Soldaten zu retten - notfalls auch 800. So fiel die Entscheidung für eine besonders grausame Kriegführung.Eine Person ohne Phantasie wie Ehud Barak (sein Wahlslogan lautet: "Nicht ein netter Kerl, sondern ein Führer") kann sich nicht vorstellen, wie anständige Leute rund um den Globus auf Aktionen wie die Tötung ganzer Großfamilien, auf die Reihen von Jungen und Mädchen in Leichensäcken, auf Berichte über Leute, die tagelang zu Tode bluten, weil die Krankenwagen nicht zu ihnen durchgelassen werden, auf das Töten von Ärzten und Sanitätern, die auf dem Weg sind, Leben zu retten, reagieren. Die Fotos aus den Hospitälern mit den Toten, Sterbenden und Verletzten, die aus Platzmangel alle zusammen auf dem Fußboden liegen, haben die Welt erschüttert. Kein Argument hat die Kraft eines Bildes von einem verwundeten kleinen Mädchen, das dort auf dem Boden liegt, sich vor Schmerzen krümmt und "Mama! Mama!" schreit.
Die Kriegsplaner dachten, sie könnten die Welt daran hindern, solche Bilder zu sehen, wenn sie die Medien gewaltsam daran hindern, zum Schauplatz der Kämpfe zu gelangen. Die israelischen Journalisten waren zu ihrer Schande bereit, die Berichte und Fotos zu bringen, die sie vom Armeesprecher erhielten, als ob dies authentische Nachrichten seien. Ausländische Korrespondenten wurden gar nicht erst zugelassen, bis sie protestierten und dann zu kurzen überwachten Trips mitgenommen wurden. Aber in einem modernen Krieg kann eine sterile und fabrizierte Sicht die anderen Perspektiven nicht ausschließen, denn der Sender Al Djasira brachte seine Bilder rund um die Uhr und erreichte jedes Haus.
So wurde die Schlacht um den Fernsehschirm zu einer der entscheidenden Schlachten des Krieges. Hunderte Millionen Araber von Mauretanien bis zum Irak, mehr als eine Milliarde Muslime von Nigeria bis Indonesien sahen die Szenen von Al Djasira und waren geschockt. Sie sahen die Herrscher Ägyptens, Jordaniens und der Palästinensischen Autonomiebehörde als Kollaborateure Israels, das die Gräueltaten gegen die palästinensischen Brüder verübte.Leute, die dem "moralischem Irrsinn" verfallen sind, können die Motive normaler Menschen nicht verstehen und müssen ihre Reaktionen erraten. "Wie viele Divisionen hat der Papst?", spottete Stalin. "Wie viele Divisionen haben die Menschen mit Gewissen?" könnte Ehud Barak nun fragen.
Wie sich herausstellt, haben sie einige. Nicht sehr viele, sie reagieren auch nicht sehr schnell. Sie sind auch nicht stark und gut organisiert. Aber in einem bestimmten Moment, wenn die Gräueltaten überhand nehmen und die Massen der protestierenden Demonstranten zusammenkommen, kann dies einen Krieg entscheiden. Selbst wenn es der israelischen Armee gelingt, jeden Hamas-Kämpfer bis zum letzten Mann zu töten, selbst dann wird die Hamas siegen. Die Hamas-Kämpfer werden für die arabische Nation ein Vorbild sein - als Helden des palästinensischen Volkes, denen jeder junge Mann in der arabischen Welt nacheifern sollte. Die Westbank könnte nach diesem Krieg wie eine reife Frucht in die Hände von Hamas fallen, während die Fatah in einem Meer der Verachtung untergeht. Der Krieg endet mit einer noch aufrecht stehenden, wenn auch blutenden, aber unbezwungenen Hamas. Und das angesichts einer so mächtigen Militärmaschine wie der israelischen, es wirkt wie ein phantastischer Sieg, wie ein Sieg des Geistes über das Material.Am Ende wird dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen uns selbst gewesen sein, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz
--------------------------------------------------------------------
http://www.freitag.de/2009/03/09030601.phpSabine Kebir
Weißer Phosphor, keine Bilder
BLOCKADEBRECHER "AL DJASIRA" - Den Bürgern im Westen werden bei diesem Krieg viele Eindrücke und Informationen vorenthalten
Die Live-Übertragungen der US-Sender CBS und ABC von den Schlachtfeldern des Indochina-Krieges Ende der sechziger Jahre haben weder die amerikanische Bevölkerung noch die Weltöffentlichkeit darin bestärkt, den Siegeswillen der damaligen Regierung Nixon zu teilen. Als eher kontraproduktiv erwies sich auch die im Irakkrieg (2003) und im letzten Libanonkrieg (2006) verfolgte Praxis, Korrespondenten mit der amerikanischen beziehungsweise israelischen Armee mitziehen zu lassen, ihnen aber bei diesem Embedded-Journalismus letztlich nur zu erlauben, Militärbriefings wiederzugeben. Das Publikum hielt vom Informationswert eines solcherart "eingebettetem" Journalismus nicht viel, der an Methoden des Ostblocks und übrig gebliebener Diktaturen erinnerte.
Diesmal nun hat Israel beschlossen, überhaupt keine Reporter ins Kriegsgebiet zu lassen, um so die weltweite Information und Debatte einigermaßen steuern und die Version vom "verzweifelten Verteidigungskrieg" verbreiten zu können. In Deutschland spielten viele Medien, allen voran die öffentlich-rechtlichen ARD und ZDF, in den ersten beiden Kriegswochen auch brav mit: Weil Israel eine Nachrichtensperre verhängt habe, gäbe es keine Bildberichte aus Gaza, wurde willig kolportiert. Bestenfalls konnte etwa die Arte-Redaktion dorthin telefonieren. Vom Leiden und Sterben der Zivilisten erfuhr man nur indirekt, weil die Hilfsorganisationen erklärten, es sei unmöglich, Nahrung und Medikamente nach Gaza zu bringen. Dabei wurde einfach unterschlagen, dass die dortige Bevölkerung nicht erst seit Beginn der Operation Gegossenes Blei, sondern seit über zwei Jahren aufgrund des israelisch-ägyptischen Boykotts keinen normalen Zugang zu unverzichtbaren Lebensgütern mehr hat.
"Al Djasira" sendet - und zwar live
Die westliche Nachrichtenpolitik wuchs sich insofern zum Skandal aus, weil jeder Sender problemlos aktuelle Bilder und Videofilme aus Gaza erwerben konnte, obwohl das Gebäude des palästinensischen Fernsehens schon am 27. Dezember, dem ersten Tage der Bombardements, zerstört wurde. Die direkte Berichterstattung vom Kriegsschauplatz fand dennoch statt. Der seit 1996 im Emirat Katar stationierte Sender Al Djasira, der schon vor zehn Jahren in der Lage war, direkte Bilder der Operation Desert Fox zu liefern - es waren Szenen des siebzigstündigen Bombardements der Vereinigten Staaten und Großbritanniens auf 100 militärische Ziele im Irak - sichert auch jetzt eine rundum direkte Berichterstattung aus Gaza und zwar mit Hilfe seit langem dort arbeitender Journalisten wie Samir Schamali und Hiba Akela.
Sie haben mit ihren Teams die Einschläge von Bomben aus der Perspektive der Bombardierten gezeigt und zwar live. Ergänzt durch dramatische Bilder aus Rettungsstationen und Hospitälern, wo die Verwundeten mittlerweile auf Tüchern oder nur auf den Armen ihrer Retter hereingetragen und oft auf dem Fußboden behandelt werden müssen. Fast ausschließlich Zivilisten - die Hälfte der Toten sind laut Al Djasira Frauen und Kinder.
Wer in Gaza Häuser, Straßen oder ganze Viertel verteidigt hat, konnte vom ersten Tag der Bodenoffensive an nicht mehr geborgen und behandelt werden - das Sterben der palästinensischen Kämpfer sah und sieht man auch bei Al Djasira nicht. Der Sender zeigt immer wieder die Klagen von Menschen aus dem Gaza-Streifen, die ihre Familien verloren haben, als Panzer in die Vororte von Gaza-City vorstießen.
Gezeigt werden im Programm dieses Kanals die pro-palästinensischen Demonstrationen in Kairo, Amman oder Damaskus ebenso wie in London, Paris oder Berlin, dazu die Statements von israelischen, arabischen und europäischen Politikern zum Kriegsgeschehen. Da Al Djasira auch die jeweils aktuellen Briefings von Premier Olmert, seiner Minister Barak und Zipi Livni in arabischer Übersetzung präsentiert sowie Berichte über die Einschläge von Kassam-Raketen in Israel, kann von Einseitigkeit keine Rede sein. Dass die stets von Neuem schrecklichen Bilder aus den Bombenzonen in Gaza emotional aufwühlen, ist nicht Schuld des Senders.
Das westliche Publikum wird von den Realitäten dieses Feldzugs abgeschirmt
Eine bewusst einseitige Berichterstattung ist diesmal eher dem Westen anzulasten, der 1998 die Bildsequenzen von Al Djasira über Desert Fox noch gern übernommen hatte oder im Oktober 2001 die Aufnahmen von US-Luftangriffen auf Kabul, bei denen die Sendestation und Redaktionsräume des arabischen Senders zu guter Letzt zerstört wurden. Jetzt soll das Fernsehpublikum in Deutschland, Österreich oder Italien vor den Realitäten dieses Feldzugs offenbar abgeschirmt werden. Zwar wird verbal eingeräumt, dass es in Gaza eine humanitäre Katastrophe gäbe, aber im gleichen Atemzug erklärt, dies sei von den Palästinensern selbst verschuldet. Was geschieht - wird unterschwellig suggeriert - sei die Strafe dafür, sich nicht widerstandslos in einem Freiluftgefängnis aushungern zu lassen.
Der nur durch seine eigenen Medien informierte Bürger in West- und Mitteleuropa hatte zu Beginn der Woche noch nichts davon erfahren, dass die israelische Armee seit dem 10. Januar über Gaza-City und dem Lager Jebaliya Bomben abwirft, die weißen Phosphor enthalten. Der Einsatz dieser starken Rauch entwickelnden Waffen dient der Deckung vorrückender Truppen, die dadurch selbst keine Sichtbehinderung erfahren. Der Einsatz dieser Waffen ist international geächtet, sobald durch die stark ätzenden Substanzen auch Zivilisten getroffen werde können. Seit dieser Woche haben nun die Hospitäler in Gaza eine erhebliche Zahl von Frauen und Kindern zu behandeln, die mit schwer verätzten Augen eingeliefert wurden. Andere Verletzte litten unter schweren Schusswunden, die von Streubomben herrühren sollen. Ärzte und Helfer in den Rettungsstationen, die ohnehin kaum noch Medikamente haben, erklärten gegenüber Al Djasira, dass ihnen diese Art von Verwundungen vollkommen neu seien und sie keinerlei Behandlungsmöglichkeiten hätten.
Um die israelische Version vom ordentlich geführten und legitimen Verteidigungskrieg zu stützen, werden in deutschen Medien auffällig wenig Menschen und Meinungen präsentiert, die daran erinnern, dass die Entwicklungen im Konflikt mit den Palästinensern jetzt allem zuwider laufen, was die Friedensforschung seit Jahrzehnten als Allgemeingut etabliert hat. Die permanente militärische Abstrafung eines Gegners führt in der auf Gleichheit aller Menschen orientierenden Moderne nicht zur Unterwerfung oder gar zum Frieden, sondern provoziert Märtyrertum und Terrorismus. Friedliche Nachbarschaft von Völkern kann sich nur durch die gegenseitige Anerkennung gleicher Rechte entwickeln - also sollte den Palästinensern ein lebensfähiger, rundum souveräner Staat zugestanden sein.
Gaza-Chronik
September 2005 - Abzug
Israel zieht nach 38 Jahren Besatzung die Armee aus dem Gaza-Streifen zurück, auch die Siedlungen werden geräumt. Gleichzeitig wird das nur 360 Quadratkilometer große Territorium völlig abgeriegelt, nicht nur zu Lande, sondern gleichfalls durch eine See- und Luftblockade. Auch für israelische Zivilisten gilt nun ein Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Januar 2006 - Wahlsieg
Wie im Westjordanland siegt Hamas bei den ersten freien Wahlen nach den Autonomieabkommen von 1993/94 auch im Gaza-Streifen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit und erhebt Anspruch auf die Regierungsbildung.
Mai/Juni 2007 - Bruderkrieg
Nach einem Putschversuch der Fatah gegen die von Hamas geführte Regierung kommt es zu einem mit Waffengewalt ausgetragenen innerpalästinensischen Konflikt. Im Ergebnis herrscht die Fatah unter Mahmud Abbas in der Westbank - die Hamas-Führung als Regierung in Gaza.
September 2007 - Feindesland
Das israelische Kabinett erklärt den Gaza-Streifen zum "feindlichen Gebiet" und kürzt die bereits limitierten Strom-, Lebensmittel- und Treibstofflieferungen an die Zivilbevölkerung.
November 2007 - US-Bürgschaft
Israel und die Fatah vereinbaren in Annapolis (USA) eine Wiederaufnahme der Verhandlungen. Der Gastgeber USA verbürgt sich für eine bis Ende 2008 zu treffende "Rahmenvereinbarung" für eine Zwei-Staaten-Lösung, zu der es jedoch nicht kommt.
Januar 2008 - Totalblockade
Israel riegelt den Gaza-Streifen so hermetisch ab, dass eine vollständige Blockade die Folge ist und die Stromversorgung für 800.000 Palästinenser zusammenbricht. Kurz darauf stürmen Tausende Gaza-Palästinenser die Grenze zum Nachbarland Ägypten und decken sich eine Woche lang mit Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten ein.
März 2008 - Generalprobe
Massive Kämpfe im Gaza-Streifen mit 125 Toten auf palästinensischer Seite und zwei Gefallenen der israelischen Armee - die Operation Heißer Winter fordert in Gaza innerhalb von 48 Stunden die höchste Opferzahl seit dem Sechs-Tage-Krieg vom 1967.
April 2008 - Kommandoaktion
Hamas-Anschlag auf den Grenzübergang Kerem Schalom, bei dem drei der Angreifer getötet und 16 israelische Soldaten verletzt werden. Bei einer Kommandoaktion der Luftwaffe Israels werden daraufhin zehn mutmaßlich militante Palästinenser gezielt getötet.
Juni 2008 - Waffenruhe
Die Regierung Olmert und zwölf palästinensische Organisationen aus dem Gaza-Streifen, darunter Hamas, vereinbaren eine sechsmonatige Waffenruhe, von deren Verlauf es abhängen soll, ob die Abriegelung der Region gelockert wird.
August 2008 - Flucht
Nachdem die Kampfhandlungen zwischen verschiedenen palästinensischen Fraktionen wieder ausbrechen, fliehen die noch im Gaza-Streifen verbliebenen Reste der Fatah-Führung in die Westbank.
November 2008 - Tunnelkampf
Trotz der Waffenruhe kommt es zu einem gezielten Militäreinsatz Israels gegen einen Tunnel in der Nähe der Grenze zu Ägypten, bei dem sechs Palästinenser getötet werden.
Dezember 2008 - Kriegsausbruch
Hamas erklärt, der Waffenstillstand werde nach seinem Ablauf am 19. Dezember nicht verlängert, da sich an der Isolation des Gaza-Streifens durch Israel nichts geändert habe. Hamas beginnt kurz darauf mit dem Beschuss südisraelischer Grenzstädte, die israelische Luftwaffe am 27. Dezember mit der Bombardierung des Gaza-Streifens - die erste Phase der Operation Gegossenes Blei.