Mittwoch, 28. Januar 2009

Auf der anderen Seite der Nacht: die SBB

Wenn ich schreibe, kann ich nicht lesen. Ich habe ein einziges Buch in die Mühle mitgenommen: das Oxford-Duden-Bildwörterbuch Deutsch und Englisch. Eine alte Ausgabe, mit chinesischen Kritzeleien auf der Titelseite. Ein Überbleibsel aus einem früheren Büro meines Mannes. Wenn ich schreibe, kann ich nicht lesen. Nicht einmal Zeitung. Ich habe keine Geduld für fremde Gedanken, keinen Platz für fremden Text, keinen Sinn für fremde Sätze. Ich recherchiere, ja. Ich suche gezielt einzelne Wörter (etwa den "Aufschiebling") oder Erklärungen (was um Himmels willen ist eine "Vorgängerin"?). Aber mehr nicht.

Es gibt ein Buch, von dem ich schon seit Monaten wusste, das ich es hier, in der Mühle würde lesen wollen. Ich ließ es direkt in mein Atelier liefern. Das Lawinenbuch von Monika Leuthold. Ich las es so langsam, wie die Autorin es schrieb. Jede Nacht eine Stunde. An seinen stärksten Stellen lebt dieser Text von einfachsten Bildern. Und diese Bilder, nicht eigentlich die ganze Geschichte, sondern vereinzelte Bilder gehen mir unter die Haut. Die Verschüttete und Gerettete wird ins Krankenhaus gebracht. Sie liegt wach. Sie sieht immer dasselbe Bild vor dem Fenster, am Tag und in der Nacht: den Rotsee und die SBB. "Ich blicke auf den Rotsee und die SBB". Ich weiß nicht, wie oft dieser Satz wieder kommt. Ich habe nicht gezählt. Er wiederholt sich wie das "... bitt für uns" im Refrain der Muttergotteslitanei. Rotsee und SBB.

Was ist, fragte ich mich plötzlich, die SBB? Der Rotsee ist ein See bei Luzern, das ist klar. Aber was ist die SBB? Den Rotsee kann man sehen, zweifellos. Aber kann man die SBB sehen? Die SBB ist eine Eisenbahngesellschaft. Sie befördert jährlich über 300 Millionen Fahrgäste und über 50 Millionen Nettotonnen Güter auf einem Streckennetz von 3011 Kilometern Länge. Sie beschäftigt über 28 000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner. Von sich selbst sagt die SBB, sie sei "nicht nur die grösste Reise- und Transportfirma der Schweiz, sondern auch eine der grössten Arbeitgeberinnen in der Schweiz".

Dies alles hat die Patientin, die nach Ansicht der Ärzte nebst ihren mittelschweren Verletzungen auch einen Schock erlitten hat, kaum von ihrem Krankenbett aus vor Augen, wenn sie schreibt, sie sehe den Rotsee und die SBB.

Die Kranke geht auf Reisen. Sie sucht ihre Seele. Sie besucht ihre Seele. Sie konsultiert ihre Seele. Die Seele, schreibt sie, ist am Oberalppass, am Ort des Lawinenabgangs geblieben. Nur der Körper konnte aus dem Schnee ausgegraben und mit dem Helikopter ins Krankenhaus transportiert werden. Die Seele war für die Retter nicht mehr fassbar, für die Verschüttete auch nicht. Die Seele hatte sich verselbständigt. Nur diese Reisen zur Seele, schreibt die Kranke im Bett auf der Intensivstation, machen die Schmerzen im Körper erträglich.

Natürlich lässt sich die Verletzte nicht mit der SBB zu ihrer Seele zurück befördern. Dazu braucht sie weder das moderne Rollmaterial noch den sorgfältig getakteten Fahrplan des Unternehmens. Zu ihrer Seele findet sie aus eigener Kraft im Bruchteil einer Sekunde. Welche Funktion erfüllt also das Kürzel SBB, stereotyp verbunden mit dem Rotsee, in ihren Gedanken?

Poetischer, so scheint es mir, kann Verstörung kaum ausgedrückt werden, als mit Rotsee und SBB. Die aus der Lawine Geborgene sehnt sich nach der Lawine. Denn dort ist ihre Seele stecken geblieben. Gleichzeitig sehnt sie sich nach dem Leben vor der Lawine. Die SBB, dieses uns Helvetiern in Fleisch und Blut übergegangene Kürzel, steht für Normalität. Für Alltag. Für das, was immer war. Und der Rotsee glitzert daneben im Sonnen- oder Mondlicht. Die Schönheit der Natur war immer gegeben im Land der SBB. Es gibt viele verblüffende Sätze in diesem Buch. Es gibt viele erschütternde Sätze in diesem Buch. Es gibt so erstaunliche Sätze wie diese: "Ich fahre so gern Zug. Ich bin Besitzerin eines GAs, eines Generalabonnements." Die Patientin kann nicht schlafen und denkt mit einer gewissen Wehmut daran, dass sie ihr GA innerhalb seiner Gültigkeit vielleicht nicht mehr ausnützen kann. Dass sie körperlich vielleicht nie wieder in die Lage kommt, einen Zug zu besteigen. Und dann formuliert die mit mehreren Rippenbrüchen, einem gebrochenen und einem lahmen Arm aus der Lawine Geborgene ihre Sehnsucht nach dem Leben: "Wenn ich konzentriert in einem Buch lesen oder etwas lernen will, steige ich in den Zug, fahre irgendwohin, stecke individuell angefertigte Ohropax in beide Ohren und arbeite total effektiv. So auch, wenn ich Briefe von Hand verfasse oder etwas Kompliziertes flicken soll. (...) Am Ende der Arbeitsfahrt fühle ich mich obendrein erholt und ausgeruht und zufrieden." Die SBB - der erfüllte Arbeitstag. Die SBB - der Sinn des Lebens. Die SBB - der Garant für Effizienz. Ich blicke auf den Rotsee und die SBB. Poetischer kann, denke ich mir, Verstörung kaum ausgedrückt werden.

Wenn ich schreibe, kann ich nicht lesen. Ich kann mich nicht in fremde Zusammenhänge begeben. Wenn ich schreibe, kann ich nicht reisen. Ich kann mich nicht der Mobilität aussetzen. Ich kann überall schreiben. Ich kann am Wattenmeer schreiben. Ich kann in Willisau schreiben. Aber ich kann nicht unterwegs schreiben. Ich kann nicht auf dem Weg vom Wattenmeer nach Willisau schreiben. Und es wäre mir absolut unmöglich, in einem fahrenden Zug von Hand zu schreiben. Ich brauche eine feste Unterlage und einen unbewegten Hintergrund. Ich besitze nun zum ersten Mal in meinem Leben ein GA. Es gehört zu den Leistungen meines Stipendiengebers. Noch weiß ich nicht, was ich damit anfange. Ja, es gab ein Wort unterwegs, das ich mir merken wollte. Jetzt kommt es mir wieder in den Sinn, nach fast einem Monat in der Mühle. Es gab ein Wort, das wollte ich mir merken und, angekommen, falls das Internet funktionierte, als erstes in die Suchmaschine eingeben. Eigentlich war es ein Unwort. Es flog an mir vorbei auf einer Reklametafel, während ein Zug mich vom Flughafen in die Mühle transportierte. Ich hatte zu viel Gepäck bei mir. Meine eigenen Zusammenhänge. Ich verlor das Wort beim Umsteigen. Ich werde es im Schienennetz der SBB suchen gehen müssen.

Monika Leuthold: Die Lawine. Ich bin drunterdrindraussen. siehe http://www.wartmann-natuerlich.ch/

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