Samstag, 28. Februar 2009
Die Uraufführung
Der Text zur Komposition, das Gedicht "Sei gelobt, du Baum!" wurde in Willisau geschrieben. Dies ist gewiss auch eine Meldung wert. Die Autorin Viivi Luik stammt wie Arvo Pärt aus Estland. Sie war die erste Stipendiatin in der Stadtmühle Willisau. Gewiss ist auch das eine Meldung wert. Pärts zweieinhalb Minuten lange Komposition beginnt mit langen Pausen. Das muss man gehört haben. Sie setzt an mit vereinzelten, gezupften Saitentönen. Kontrabass oder Violine. Auf jeden Ton folgt eine mindestens doppelt so lange Pause. Dies ist eine nächste Meldung wert. Das Ästhetische der Stille. Der Geduld. Komponiert wurde das Stück für ein Instrument, das aus einem zweieinhalbtausend Jahre alten Holzstück gebaut wurde. Für die Quinterne. Und das ist eine weitere Meldung wert.
Der Baum stammt aus meiner Heimat. Aus dem Baselbiet. Dies ist mir eine private Meldung wert. Er war eine Weißtanne, die mit stolzen 200 Jahren bei einem Erdrutsch im Jahr 317 vor Christus gefallen sein muss. Man nimmt an, dass ihr Holz mit Lehm überdeckt wurde. Deshalb ist es heute so wie es ist. Gut konserviert. Ein vorzügliches Klangholz. Astlos, gerade und feinjährig gewachsen. Es wurde bei einem Brunnenbau im Jahr 1962 auf dem Weingut Tschäpperli in Aesch gefunden. Das Holz fiel 2001 der richtigen Frau in die Hand. Einer Schreinerin, Musikerin und Orgelbauerin. Das ist nun wieder eine offizielle Meldung wert. Die Schreinerin stellte das Holz für den Bau einer Quinterne zur Verfügung. Genauer gesagt für die Decke der Quinterne. Ende der Meldungen.
Das schönste an der Uraufführung war, dass sie wiederholt wurde. Es fand die Uraufführung und die erste Aufführung statt.
Freitag, 27. Februar 2009
Die Rockflöte
© Foto: Morisse Feger, Flautisto classico
Donnerstag, 26. Februar 2009
Die Männerseite
Heute habe ich Augen nur für die Männerseite. Von hinten nach vorne hängen an den rechten Seitenfenstern bunte Glasbilder mit männlichen Heiligen, jeweils zwei in einem Kirchenfenster in folgender Reihenfolge:
- der sel. Niklaus von der Flüh und der hl. Gandolf.
- der st. Lukas und der hl. Eulogius
- der hl. Franziskus und der hl. Aloysius
- der hl. Alban und der hl. Severin
- und - über dem rechten Seitenportal, gegenüber dem linken Seitenportal, über dem die hl. Theresia und die hl. Agnes hängen - der hl. Crispinian und der hl. Crispin! Der dritte Crispin! Und der zweite Crispinian! Nun habe ich bereits fünf Schuhmacherschutzheilige um mich versammelt! Wäre der Orgelspieler gestern nicht bei der Arbeit gewesen, wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte, bis ich diese beiden schönen Männer in der Mittagssonne entdeckt hätte. Buntgewandet, in kräftiges Grün und Rot gekleidet, von vielen Schuhen umgeben, beide halten in der vom Betrachter aus gesehenen "äusseren" Hand - also der hl. Crispinian in der linken und der hl. Crispin in der rechten Hand - einen Schuh. Auf beiden Bildern sind Hammer und Zangen vorhanden sowie der unverzichtbare Palmwedel zum Zeichen des überstandenen Martyriums. Sie hängen natürlich in der Sichtachse der Prozessionsbüste des hl. Crispin.
- der hl. Magnus und der hl. Eutychius
Wieder bin ich schon fast vorne. Zwischen diesem und dem nächsten Fenster steht der Seitenaltar. Auf dem Seitenaltar steht die Prozessionsbüste des San Sebastian. Er ist angezogen und hübsch, mit vielen Pfeilen bestückt. Diese sogenannten Sebastianspfeile sollen vor Pest schützen sowie vor jeder "anfliegenden" Krankheit.
- der hl. Joseph und der hl. Kilian
Ende der Männerseite.
Ich wiederhole mich ungern. Ich bin dem Orgelspieler unendlich dankbar. Und er ahnt immer noch nichts davon.
Mittwoch, 25. Februar 2009
Die Frauenseite
Der Mann am Laminiergerät fragte mich heute morgen, ob der neu aufgestellt worden sei.
Ich antwortete, meines Wissens stehe der da schon seit ewig und drei Tagen.
Er habe ihn noch nie gesehen, gestand der Mann, während er wartete, bis das Laminiergerät auf Einsatztemperatur warm geworden war.
Es ging um den heiligen Crispin. Ich hatte, aus Gründen, die ich hier nicht darlegen muss, sein Foto auf ein A4-Blatt ausgedruckt und wollte es in regensichere Plastikfolie einschweißen lassen.
Der Mann guckte sich das Bild noch einmal an. Und fügte hinzu: Ach, der steht auf der Frauenseite. Das Laminiergerät gab ein lautes "Piep" von sich und leuchtete grün. Der Mann am Laminiergerät machte sich an seine Arbeit.
Und ich habe meine Mehrsatztemperatur erreicht. Der Heilige Crispin in der St. Peter und Paul Kirche steht am linken Seitenaltar. Die linke Seite ist die Frauenseite. Ich lasse meine Sonntagsarbeit liegen und überprüfe das Gehörte. Der Orgelspieler ist in der Kirche bei der Arbeit. Also verweile ich. Es ist so schön. Im Sitzen. Im Stehen. Im Gehen. Ich schreite beide Seiten ab. Heute habe ich Augen nur für die Frauenseite. Von hinten nach vorne hängen an den Seitenfenstern bunte Glasbilder mit weiblichen Heiligen, jeweils zwei in einem Kirchenfenster in folgender Reihenfolge:
- die hl. Magdalena und die hl. Katharina
- die hl. Clara und die hl. Scholastica (es war mir nicht bewusst, dass dies eine Frau ist noch dass es sich um eine Heilige handelt - aber warum eigentlich nicht?)
- die hl. Maria und die hl. Elisabeth
- die hl. Barbara und die hl. Idda von Toggenburg
- die hl. Theresia vom Kinde Jesu und die hl. Agnes
- die hl. Anna und die hl. Agata
Ich bin schon fast vorne. Zwischen diesem und dem nächsten Fenster steht der Seitenaltar. Auf dem Seitenaltar steht die Prozessionsbüste des hl. Crispin, die wir bereits kennen.
- die hl. Verena und die hl. Caecilia.
Ende der Frauenseite.
Der Orgelspieler ist noch bei der Arbeit. Ich erkläre meine Arbeit für heute für beendet. Der Orgelspieler hat weder von meiner Anwesenheit noch von meiner Arbeit etwas mitbekommen. Ich konnte weder seine Gegenwart noch die Früchte seiner Arbeit nicht zur Kenntnis nehmen. Ich bin ihm dankbar und er ahnt nichts davon.
Dienstag, 24. Februar 2009
Signierstifte
Montag, 23. Februar 2009
Montagsschuhwörter
Wenn das keine Poesie zum Nachmittagstee ist!
Montagsschuh
Gestern kam mir in Spreitenbach ein leibhaftiger Crispin aus dem Lötschental entgegen, der hatte eine ähnlich leuchtende Aura.
Abbildung entlehnt von: http://www.solidus-schuh.com/
Kann ev. durch Anklicken vergrößert werden.
Sonntag, 22. Februar 2009
Sonntagsarbeit
Wir, man weiß es bereits, das sind meine Schuhfrau, auch Schuhmacherin genannt, und ich, ihre Schriftstellerin. Sie arbeitet heute und ich laufe hinterher. Hinter ihr und hinter der Arbeit. Ich kann meine Arbeit immer erst hinterher verrichten. Die Schuhfrau hingegen kann an Ort und Stelle arbeiten. Ich muss meine Arbeit nach Hause tragen. Die Schuhfrau hingegen trägt ihre Bestellzettel nach Hause. Ich kann weder in der SBB noch in der FOM, der Fashion Order Mall, dem Schuhhandelszentrum in Spreitenbach arbeiten. Die Schuhfrau kann überall arbeiten.
Ich habe heute alle Schuhe der Wintersaison 2009/2010 gesehen. Auch die, die nie produziert werden, weil niemand sie bestellt. Die Schuhfrau hat heute auch alle Schuhe der Wintersaison 2009/2010 gesehen. Sie hat mit anderen Augen geguckt als ich. Sie sagt zum Beispiel: "Das goutiert meine Kundschaft nicht" und kauft keine mit synthetischen Textilien gefütterten Schuhe ein. Ich sage nichts. Ich sammle stumm Eindrücke. Schuhe, lerne ich, werden nach Sohlen sortiert. Schuhe, lerne ich, bekommen ihre Namen aus Büchern wie Kinder. Schuhe, lerne ich, sind für Schuhprofis vor allem von unten wichtig. Jeder Schuh wird zuerst in der Hand umgedreht. Die Schuhverkäuferinnen und Schuhverkäufer wollen die Beschaffenheit der Sohle sehen und befühlen. Dann sagen sie zum Beispiel: "Diese Sohle eignet sich für meinen Laden nicht!" Auch Absätze sind ein Problem. Eine aus der italienischen Schweiz angereiste Schuhverkäuferin klagt, ihre Kundinnen könnten in ihrem Laden diese Schuhe nicht anprobieren, da sie mit solchen Absätzen auf dem gebohnerten Parkettboden keinen Stand fänden. Sondern zu Boden segelten. Und dabei Gefahr liefen, sich das Genick zu brechen.
Ich entdecke auf einer Schuhsohle Wörter und Zahlen, Mengenangaben. Der Händler verrät mir, dass auf der Sohle des Ausstellungsstücks (= linker Schuh) ein Puddingrezept stehe. Auf dem rechten Schuh hingegen stehe ein Linzertortenrezept. Und da die Rezepte nicht vollständig auf den Schuhsohlen Platz fänden, seien sie im Katalog komplett nachzulesen. Oder nachzubacken. Nachzukochen. Donnerwetter! Und wir Laien gucken, ob oben die Farbe, der Bändel, der Reißverschluss, die Spitze, das Leder, die Breite, die Länge, die Höhe passt. Und die Schuhfachwelt guckt unten auf Rutschfestigkeit, Weichheit und Elastizität. Auf breiten Sohlenauftritt mit guter Seitenstabilität. Auf optimale Druckentlastung beim Abrollen. Auf stabile Fersenführung. Auf Auftrittdämpfung. Auf Vorfußabrollhilfe. Auf bienenwabenartige Luftflächen, die wie eine doppelte Verglasung den Fuß vor Kälte schützen. Auf weiche Polsterung, die das Gehen wie auf Wolken erscheinen lassen. Auf ...
Wie gesagt: die Schriftstellerin meiner Schuhmacherin nimmt die Arbeit mit nach Hause. Die Schuhmacherin der Schriftstellerin schläft längst selig. Morgen früh muss sie nämlich, bevor sie ihre Arbeit beginnen kann, mit der Schneeschaufel eine Bahn frei legen von der Straße zur Eingangstür ihres Schuhhauses.
Freitag, 20. Februar 2009
Oskar Bider (1891-1919)
Foto entlehnt von der offiziellen Seite des Kantons Basellandschaft, siehe:
http://www.baselland.ch/album-htm.288186.0.html
Air Willisau
Donnerstag, 19. Februar 2009
Schmudo
"Schmudo" lerne ich heute, ist die Abkürzung für Schmutziger Donnerstag. Und Schmutziger Donnerstag hat nichts mit Schmutz zu tun. Die Stadtreinigung fegte den Dreck nach dem Kinderumzug heute Nachmittag innerhalb einer halben Stunde weg. Danach sah die adrette Hauptgasse wieder aus, als wäre gar nichts gewesen. Schmutz oder Schmotz ist angeblich ein Dialektausdruck für Fett. Am Schmutzigen oder Fetten Donnerstag (vgl. Jeudi Gras oder Giovedi Grasso - um bei unseren eigenen Sprachen zu bleiben) wurde früher noch einmal geschlachtet und man versuchte sich bis zum Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch noch möglichst viele Fettreserven anzuessen.
Das Schönste, was mir der Kinderumzug am heutigen Schmudo gezeigt hat, waren die drei roten Flugzeuge der Air Willisau. Die drei kleinen Piloten trugen mit Pelz gefütterte Lederfliegermützen, Fliegerbrillen, Lederjacken, Lederhandschuhe, Lederhosen und sogenannte "Bücker-Stiefel". Sie bedienten ihre Pappkisten so gekonnt, wie einst der Baselbieter Flugpionier Oskar Bider seine ersten Fluggeräte. Sie schwebten und wackelten tatsächlich im kalten Wind über der Altstadt. Wie phantasielos wirkte dagegen der realitätsnah gebaute silberne Kampfjet, in dem zwei Kinder unter einem Glasdeckel untätig hintereinander saßen. Das Superding hielt nur mit Hilfe dreier Erwachsener die Balance am Boden. Vorwärts kam es über das Straßenpflaster auch nur dank dieser Großen. Zwei hielten hinten die Flügel fest und schoben. Einer zog vorne an einem Strick wie an einer Kuh.
Fliegen ist kein Alpaufzug. Und der Schmutzige Donnerstag ist der sauberste Tag des Jahres.
Mittwoch, 18. Februar 2009
Schuhmacherwerkstatt 3
Dienstag, 17. Februar 2009
Schuhmacherwerkstatt 2
Montag, 16. Februar 2009
Schuhmacherwerkstatt 1
Sonntag, 15. Februar 2009
Sonntagsspaziergang
Welcher Welt, welchem Wort, welchem Ort, welchem Augenschein sollen wir nun glauben und nacheilen?
Auf der anderen Seite der Wigger, in unserem Rücken (ich bringe die Himmelsrichtungen absichtlich durcheinander), liegt über Willisau der Willbrig. Ich glaube, die Endung -brig ist die dialektale Form von "Berg" (ich müsste den Briefträger fragen, der kennt sich aus: die Strasse, die auf den Wellbrig führt, heisst im Telefonbuch und auf seinen Briefumschlägen "Wellbergstrasse"). Im Süden gibt es noch den Wellsbrig, den Vorder Wellsbrig, den Hinder Wellsbrig und das Wellsbrigloch. Also der Well-Berg (der gewellte Berg?) und der Will-Berg (der gewillte, gewollte Berg? oder der Berg von einem Willi, wie er auch in Willi-s-Au steckt?) und der Wells-Berg (der gewell-te-S-te Berg?).
Wie oder wo sind wir nun angekommen?
Samstag, 14. Februar 2009
Der deutsche Shakespeare
[…] O wünsch nicht einen mehr!
Ruf lieber aus im Heere, Westmoreland,
Daß jeder, der nicht Lust zu fechten hat,
Nur hinziehn mag; man stell ihm seinen Paß
Und stecke Reisegeld in seinen Beutel:
Wir wollen nicht in des Gesellschaft sterben,
Der die Gemeinschaft scheut mit unserm Tode.
Der heutge Tag heißt Crispianus' Fest:
Der, so ihn überlebt und heim gelangt,
Wird auf den Sprung stehn, nennt man diesen Tag,
Und sich beim Namen Crispianus rühren.
Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren,
Der gibt ein Fest am heilgen Abend jährlich
Und sagt: «Auf morgen ist Sankt Krispian!»
Streift dann den Ärmel auf, zeigt seine Narben
Und sagt: «Am Krispinstag empfing ich die.»
Die Alten sind vergeßlich; doch wenn alles
Vergessen ist, wird er sich noch erinnern
Mit manchem Zusatz, was er an dem Tag
Für Stücke tat: dann werden unsre Namen,
Geläufig seinem Mund wie Alltagsworte:
Heinrich der König, Bedford, Exeter,
Warwick und Talbot, Salisbury und Gloster,
Bei ihren vollen Schalen frisch bedacht!
Der wackre Mann lehrt seinem Sohn die Märe,
Und nie von heute bis zum Schluß der Welt
Wird Krispin-Krispian vorübergehn,
Daß man nicht uns dabei erwähnen sollte,
Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein Brüder:
Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,
Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig,
Der heutge Tag wird adeln seinen Stand.
Und Edelleut in England, jetzt im Bett,
Verfluchen einst, daß sie nicht hier gewesen,
Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht,
Der mit uns focht am Sankt Crispinustag.
entlehnt von: Projekt Gutenberg-DE, gehostet vom Spiegel
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=2617&kapitel=21&cHash=c4ea3620492#gb_found
Freitag, 13. Februar 2009
Der falsche Bezug
KING. [...] O, do not wish one more!
Rather proclaim it, Westmoreland, through my host,
That he which hath no stomach to this fight,
Let him depart; his passport shall be made
And crowns for convoy put into his purse:
We would not die in that man's company
That fears his fellowship to die with us.
This day is called the feast of Crispian:
He that outlives this day, and comes safe home,
Will stand a tip-toe when the day is named,
And rouse him at the name of Crispian.
He that shall live this day, and see old age,
Will yearly on the vigil feast his neighbours,
And say "To-morrow is Saint Crispian":
Then will he strip his sleeve and show his scars.
And say "These wounds I had on Crispin's day."
Old men forget: yet all shall be forgot,
But he'll remember with advantages
What feats he did that day: then shall our names,
Familiar in his mouth as household words
Harry the king, Bedford and Exeter,
Warwick and Talbot, Salisbury and Gloucester,
Be in their flowing cups freshly remember'd.
This story shall the good man teach his son;
And Crispin Crispian shall ne'er go by,
From this day to the ending of the world,
But we in it shall be remember'd;
We few, we happy few, we band of brothers;
For he to-day that sheds his blood with me
Shall be my brother; be he ne'er so vile,
This day shall gentle his condition:
And gentlemen in England now a-bed
Shall think themselves accursed they were not here,
And hold their manhoods cheap whiles any speaks
That fought with us upon Saint Crispin's day.
Mit Schuhen hatte die Schlacht von Azincourt, eine der wichtigen Schlachten im Hundertjährigen Krieg, gar nichts zu tun. Und ob Shakespeare meine Hochachtung für Schuhmacher und deren Schutzpatrone teilte, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube eher, dass er beim Schreiben ähnlich vorging, wie ich. Er brauchte für den Tag der Schlacht - den 25. Oktober 1415 - eine passende Metapher oder einfach nur ein schönes Wort oder hintersinngefälliges Wortspiel. Wie "Crispin- Crispian". Shakespeare musste die Rede seiner Figur, des englischen Königs mit ausreichend Explosivstoff bestücken. Der König musste seine Leute (angeblich nur 1000 Ritter und 5000 Bogenschützen) emotional motivieren - gegen jede andere Motivation sprach der Verstand - gegen das zahlenmässig weit überlegene französische Heer (angeblich 25 000 berittene Krieger) anzutreten und nicht feige davonzulaufen. Shakespeare lässt den König sogar großzügig anbieten, dass jeder, der nicht fechten will, ungestraft und mit Reisegeld ausgestattet nach Hause gehen darf. Mittlerweile haben Historiker belegt, dass das personelle Verhältnis der beiden Heere nicht 1:4 war, sondern höchstens 2:3 - von diesen Forschungen konnte aber Shakespeare nichts gewusst haben. Er, Shakespeare war dem Mythos der Zeit noch absolut verfallen - oder er erschaffte diesen Mythos erst mit seinem Stück selbst, auch das ist möglich. Er, Shakespeare musste eine literarische Erklärung finden für die innere Stärke, das innere Aufstehen einer Handvoll englischer Krieger, welche(s) ihnen diese unglaubliche Schlagkraft verliehen hatte. Und diese Erklärung plausibel herzustellen, ist für den Literaten reine Formsache.
Shakespeare lässt seine Figur, den englischen König eine sprachliche List anwenden, die auch ich in meinen Texten gerne anwende: das Spiel mit der Zeit. Die Zeitspirale. Eine in die Zukunft überdrehte Zeitspirale. Mit einer nicht unerheblichen Suggestivkraft drischt der königliche Feldherr mit literarischen Phrasen auf seine Soldaten ein: denkt daran, immer, wenn der Sankt-Crispin-Tag naht, denkt daran, denkt heute daran, wie ihr euch im Alter an jedem Sankt-Crispin-Tag an diese Schlacht (die in dem Moment, in dem der König spricht, noch gar nicht stattgefunden hat) erinnern werdet, wie ihr euren Söhnen die Narben zeigen werdet, wie ihr stolz auf eure Leistung an jenem Sankt-Crispin-Tag sein werdet, an jedem Sankt-Crispin-Tag bis ans Ende der Welt ... Der König versetzt seine Krieger sprachlich und mental in die Zukunft. Er erzählt ihnen ihre Zukunft. Er baut diese Zukunft rein sprachlich aber nicht minder real, mit einfachsten Mitteln auf: stellt euch vor, wie es sein wird, wie ihr euch fühlen werdet, wenn ihr die Schlacht überlebt habt. Mit diesem hypnotischen Zukunftsentwurf befreit er seine Soldaten vom Bewusstsein der quälenden, bedrohlichen, lebensbedrohlichen Gegenwart. Der König ersetzt mit seiner Rede, in der er nur verbale Mittel beschwörend benützt, das lähmendste, im Krieg unbrauchbarste aller Gefühle, die Todesangst durch eine beflügelnde Kraft, durch Stolz, durch Selbstbewusstsein, durch Gewissheit auf Weiterleben, auf Nachkommen, Kontinuität, Geschichte - mit einem Wort: Wert. Oder: Sinn. So gedopt stürmen die englischen Fußtruppen los. Und gewinnen.
Mit Schuhen hat das alles gar nichts zu tun (was mögen die Fußtruppen für Fußbekleidung getragen haben? Vielleicht zeigt es der Film oder youTube). Auch nicht mit den Handwerkerheiligen, meinen Schuhmacherpatronen und ihren hinten abgerundeten Schuhmacherhämmern. Die Schuhmacher verehrten ihre Schutzpatrone damals bereits seit mindestens eintausend Jahren immer am 25. Oktober. Crispin und Crispinian gehörten den Schuhmachern, lange bevor sie auch Shakespeare vereinnahmte. Alles reine Formsache: Shakespeare musste etwa 183 Jahre nach der Schlacht (die Uraufführung von "Henry V" fand 1599 statt) den Sieg literarisch überzeugend darstellen. Er musste den Sieg als eine logische Abfolge von Taten literarisch begründen. Und das ist ihm, Shakespeare, auch gelungen. Unter anderem mit Hilfe der Heiligen Crispin und Crispinian. Aber die Wahl dieser Heiligen ist purer kalendarischer Zufall. Die Schlacht fand am Tag statt, an dem die Schuhmacher ihrer Schutzpatrone gedenken. Aber die Schlacht hat mit dem Wesen dieser Heiligen und ihrer Verehrung nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Ich mache das übrigens auch gerne. Ich erfinde auch mit Vorliebe literarisch raffinierte und plausible Lösungen für die Geheimnisse dieser Welt.
Die Saint Crispian's Day Speech hier im Original zum nachgucken und nachhören:
http://www.youtube.com/watch?v=OAvmLDkAgAM
Mittwoch, 11. Februar 2009
Die falsche Sprache
Nein, mich irritiert nicht, wie die fremde Sprache gesprochen wird. Mich irritiert, dass in der fremden Sprache gesprochen wird. Dass in dieser Sache von einem Schweizer in der Schweiz vor Schweizer Medienleuten in der fremden Sprache gesprochen wird. Als ob wir nicht genug eigene Sprachen zur Verfügung hätten. Und es irritiert mich, dass dies niemandem aufzufallen scheint, außer mir.
Mich irritiert, dass in (deutschsprachigen) Kommentaren heute von "vergifteten" Wertpapieren die Rede ist, von "toxischen" Anteilen, von "Schrottpapieren", von einem "echten Ramschpaket" im Gegensatz zu "noch einigermassen brauchbaren Papieren", von einem "Klumpenrisiko Grossbank", von einem "Schrottpapier-Deal" mit dem Bund, bzw. der SNB usw.
Den ganzen Tag höre ich Schriftdeutsch im nationalen Radio.
Den ganzen Tag versuche ich mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auf das fehlende Emblem in der Hand des einen Zwillingsschuhmacherpatrons in der Heilig-Blut-Kapelle.
Den ganzen Tag höre ich in regelmäßigen Abständen, dass das Staatsradio einen "Partner für Klassik und Jazz" hat, sprich (oder verstehe): gesponsert wird von der Crédit Suisse.
Wundert es irgendjemanden am anderen Ende der Leitung, dass auch der CEO dieser Schweizerischen Großbank heute einen Milliardenverlust vermelden wird? Ich kann noch nicht sagen, in welcher Sprache, aber ich nehme an, in der Sprache der Diplomatie - en français.
Dienstag, 10. Februar 2009
Tausend und einhundert zweiundachtzig Küsse
Vorgestern riefst Du beim Umsteigen von Miami an, gestern Mittag ausgeschlafen aus dem Zimmer 603 eines Hotels in Kingston. Dabei war überhaupt nichts anders, als wenn Du mich aus dem Büro in Heide oder aus dem Haus am Wattenmeer anrufst. Weder wurden unsere Stimmen verzerrt noch wackelten die Bilder mehr als sonst.
Du siehst aus wie immer (außer: nackte Unterarme, kurzärmliges gelbes Hemd). Und Du behauptest wie immer, von mir ein "Nasa-Bild" zu empfangen. Ich kann meine Kamera auch deaktivieren, biete ich mit schöner Regelmäßigkeit an. Nein, nein, wehret den Anfängen, rufst Du und willst wissen, wo die rote Thermoskanne abgeblieben ist. Der einzige Farbfleck auf der Küchenzeile in meinem Rücken.
In Jamaika fängt jeder Tag, nicht nur unser eingespielter 10., sechs Stunden später an als in Willisau. In diesen sechs Stunden bringe ich meinen ganzen Nachtschlaf hinter mich und beginne zu Beginn der siebenten Stunde frohgemut mein Tagewerk.
Ich gratuliere ins Blinde hinein, in die Nacht hinein, in den Nebel hinein, in das Sturmtief hinein, das von Frankreich herüberzieht, in die stockfinstere Karibik hinein, irgendwo südlich von Kuba ... Tausend und einhundert zweiundachtzig Küsse!
Montag, 9. Februar 2009
Richtigstellung Zwo
Doch damit nicht genug: der ganze linke Seitenaltar ist der Altar der Schuhmacher.
Nur zum Vergleich:
Alle Zunftbruderschaften haben ihr kirchliches Zentrum in der Heilig-Blut-Kapelle. Den rechten Seitenaltar teilen sich die Krämer (St. Jakob), die Schneider (St. Magnus und St. Michael), die Schmiede (St. Eligius) und die Weber (St. Severin). Die Bauleute benützen mit ihrem Patron (das Heilige Kreuz) den Hauptaltar. Die Bäcker besitzen als einzige keinen eigenen Altar (angeblich aus logistischen Gründen: ihre Bruderschaft entstand erst nach dem Neubau der Kapelle und da waren alle Plätze belegt).
Sonntag, 8. Februar 2009
Richtigstellung
Manchmal wünschte ich mir, dass manche meiner Landsleute für ... sagen wir mal: einen halben Tag oder auch nur zwei Stunden am Nachmittag, ich bin ja nicht bösartig ... in die Lage versetzt würden, in egal welchem Land dieser Erde: Ausländer zu sein.
Der richtige Schmerz
Samstag, 7. Februar 2009
Der richtige Fluss
Dann stand ich drei Stunden im Formonterhof im Trockenen in einem mindestens 4 Meter hohen Raum. Wie eine Kiefer im Wald. Oder wie der Wind im Gehen. Oder wie der Regen im Fluss. Ich reckte und streckte mich und meine Hände in den Himmel, an die, oh wie herrlich unerreichbare Stuckdecke. Und spürte das Fließen unter den Füßen. Vor dem Fenster findet an dieser Stelle der Rhein endlich seinen Weg nach Norden.
Statt zu Mittag zu essen, trat ich in die Lücke in der Häuserzeile am Ufer, die mir den ganzen Vormittag den Blick auf den Fluss frei gegeben hatte. Eine winzige Pfalz. Eine Fahrradbestandene Terrasse, gesäumt von zwei blattlosen Linden und einem wie überall in diesem Land jahraus jahrein sprudelnden Brunnen. Solothurner Kalkstein, sagt mir ein Metalltäfelchen, Kopie eines sechseckigen Brunnentrogs und eines Brunnenpfeilers mit Blattornamenten aus dem 19. Jahrhundert, auf dem sich eine liebliche Frauenfigur reckt und streckt. Das brauchten die Frauen damals schon, dachte ich anerkennend, und ein Steinmetz hatte es erkannt! Das Original steht im Historischen Museum. Die Frau sei "reisefleissig", sagt das Regentropfentriefende Täfelchen weiter. Und der Brunnen heiße "Faule-Magd-Brunnen". Ich machte auf dem Absatz meiner neuen roten Schuhe kehrt, rief das GA wie einen Hund, nahm es an die straffe Leine und führte es unverzüglich in die Mühle zurück.
Donnerstag, 5. Februar 2009
Der richtige Heilige
Mittwoch, 4. Februar 2009
Die falsche Luft
Ich gehe seit zwei Tagen nachts spazieren. Wenn ich aufhöre zu arbeiten, schalte ich den Computer aus, öffne alle Fenster, ziehe die Schuhe an (das kostet am meisten Überwindung), nehme den Lift und verlasse die Mühle. Ich muss, bevor ich mich zu Bett begebe, die Gedanken loswerden, Wörter vertreiben, überflüssige Sätze im Willisauer Brunnenwasser ersäufen. Das habe ich mir nun auferlegt und hoffe, besser schlafen zu können.
Hier ist die Luft trocken, sage ich. Wir sehen uns seit neuestem beim Telefonieren und schicken uns fortlaufend emoticons auf den Bildschirm ("verliebt", "fieses Grinsen", "umarmen", "nicken", "tanzen", "Ninja" [?], "Blumen", "cool", "Mmmm..." usw.). Dabei lachen wir uns halbtot. Am meisten gefällt uns der Japaner, der nicht aufhören will, sich zu verbeugen. Meine Haut ist trocken, sage ich. Meine Wangen sind trocken. Meine Lippen sind trocken. Meine Fingerbeeren sind trocken. Meine Handrücken sind trocken. Meine Unterarme sind trocken. Das Einschlafen ist trocken. Das Aufwachen ist trocken. Ich vermisse dich.
Dienstag, 3. Februar 2009
Die falschen Propheten
Die Nachrichten des Deutschen Radios beginnen zur Zeit mit den Namen "Mehdorn" oder "Merkel". Oder mit blutleeren Begriffen wie "Krankenstand", "Umfragehoch" oder "Mindestlohn". Oder mit Ungeheuerlichkeiten wie "Kritik am Papst". Der Papst, das Oberhaupt der Katholischen Kirche, ist per definitionem unfehlbar. Würde der Papst einen Fehler zugeben, müsste er sich - wie heute früh der Ex-DDR-Liedermacher und Mädchenschänder Kurt Demmler - an seinem Gürtel aufhängen. Und falls der Papst keinen Gürtel trägt, kann er die Mönchskordel um seine Gurgel schlingen. Ist der Papst nicht auch Mönch? Oder heißt die Kordel um seinen Bauch Papstkordel? Wie auch immer, weder der Papst noch der Mönch im Papst käme in diesem Fall in den Himmel - und das muss man sich erstmal genüsslich im Hirn und auf der Zunge zergehen lassen.
Derweil werden im Schweizer Radio die Nachrichten zur Weltlage in einer Kunstsprache vorgetragen. In gemäßigtem Tempo. In beruhigendem Ton. Die Welt und ihre Lage rücken mit all ihren Krisen und Herden in weite Ferne. Ich fühle mich hier durch nichts angesprochen. Inhaltlich berührt mich kein einziges Wort. Nur formal befremdet mich vieles, wenn nicht alles. Ich habe vergessen, dass die Sprache, die ich höre und Kunstsprache nenne, weil sie in meinen Ohren unnatürlich klingt, Schriftdeutsch heißt. Das Schweizer Radio spricht Schriftdeutsch. Ich habe keine Ahnung, in welcher Sprache die Schweizer Zeitungen schreiben.
Montag, 2. Februar 2009
Die falschen Berge
Aus oben angegebenen Gründen entschied ich mich für eine althergebrachte, naturalistisch überzeugende Bergwelt und bereute es bis gestern nicht. Ich musste vor der endgültigen Installation meinen geographischen Standort eingeben. Das kam mir zwar spanisch vor, aber da die Berge sich anders nicht hinter meinen Mail-Briefkasten zaubern ließen, füllte ich gehorsam alle Pflichtfelder aus. Nach einer Woche verstand ich den Sinn dieser Schikane. Täglich um Mitternacht wird mein Berghintergrund ausgewechselt. Im Wochenrhythmus. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich jeden Tag in andere Felsschluchten schaue. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass nur Samstags meine Bergwelt kitschig (am Horizont rosarot verfärbt) aussieht.
Heute ist Montag. Und ich sehe um acht Uhr diese unnatürliche, elektronisch generierte Sonnenuntergangs- oder -aufgangsstimmung meines Mail-Samstags. Um neun Uhr merke ich, dass ich nicht arbeiten kann. Um zehn Uhr hat sich das Samstagsrosa noch immer nicht verflüchtigt. Um elf Uhr bin ich so verwirrt, dass ich beschließe, den Computer auszuschalten, mich warm anzuziehen und den Rest des Tages mit meinem GA in der SBB zu verbringen.