Über Nacht ist die Schweiz noch einmal zugeschneit worden. Seufzend machen wir uns am frühen Morgen mit der SBB auf den Weg zur Arbeit. Das ist umständlich, wir müssen viermal umsteigen, verpassen wegen Verspätung einen Anschluss, kommen an Orten vorbei, von denen ich nicht gewusst habe, dass sie existieren. Aber noch umständlicher wäre es gewesen, das Auto der Schuhfrau aus dem Schnee auszugraben.
Wir, man weiß es bereits, das sind meine Schuhfrau, auch Schuhmacherin genannt, und ich, ihre Schriftstellerin. Sie arbeitet heute und ich laufe hinterher. Hinter ihr und hinter der Arbeit. Ich kann meine Arbeit immer erst hinterher verrichten. Die Schuhfrau hingegen kann an Ort und Stelle arbeiten. Ich muss meine Arbeit nach Hause tragen. Die Schuhfrau hingegen trägt ihre Bestellzettel nach Hause. Ich kann weder in der SBB noch in der FOM, der Fashion Order Mall, dem Schuhhandelszentrum in Spreitenbach arbeiten. Die Schuhfrau kann überall arbeiten.
Ich habe heute alle Schuhe der Wintersaison 2009/2010 gesehen. Auch die, die nie produziert werden, weil niemand sie bestellt. Die Schuhfrau hat heute auch alle Schuhe der Wintersaison 2009/2010 gesehen. Sie hat mit anderen Augen geguckt als ich. Sie sagt zum Beispiel: "Das goutiert meine Kundschaft nicht" und kauft keine mit synthetischen Textilien gefütterten Schuhe ein. Ich sage nichts. Ich sammle stumm Eindrücke. Schuhe, lerne ich, werden nach Sohlen sortiert. Schuhe, lerne ich, bekommen ihre Namen aus Büchern wie Kinder. Schuhe, lerne ich, sind für Schuhprofis vor allem von unten wichtig. Jeder Schuh wird zuerst in der Hand umgedreht. Die Schuhverkäuferinnen und Schuhverkäufer wollen die Beschaffenheit der Sohle sehen und befühlen. Dann sagen sie zum Beispiel: "Diese Sohle eignet sich für meinen Laden nicht!" Auch Absätze sind ein Problem. Eine aus der italienischen Schweiz angereiste Schuhverkäuferin klagt, ihre Kundinnen könnten in ihrem Laden diese Schuhe nicht anprobieren, da sie mit solchen Absätzen auf dem gebohnerten Parkettboden keinen Stand fänden. Sondern zu Boden segelten. Und dabei Gefahr liefen, sich das Genick zu brechen.
Ich entdecke auf einer Schuhsohle Wörter und Zahlen, Mengenangaben. Der Händler verrät mir, dass auf der Sohle des Ausstellungsstücks (= linker Schuh) ein Puddingrezept stehe. Auf dem rechten Schuh hingegen stehe ein Linzertortenrezept. Und da die Rezepte nicht vollständig auf den Schuhsohlen Platz fänden, seien sie im Katalog komplett nachzulesen. Oder nachzubacken. Nachzukochen. Donnerwetter! Und wir Laien gucken, ob oben die Farbe, der Bändel, der Reißverschluss, die Spitze, das Leder, die Breite, die Länge, die Höhe passt. Und die Schuhfachwelt guckt unten auf Rutschfestigkeit, Weichheit und Elastizität. Auf breiten Sohlenauftritt mit guter Seitenstabilität. Auf optimale Druckentlastung beim Abrollen. Auf stabile Fersenführung. Auf Auftrittdämpfung. Auf Vorfußabrollhilfe. Auf bienenwabenartige Luftflächen, die wie eine doppelte Verglasung den Fuß vor Kälte schützen. Auf weiche Polsterung, die das Gehen wie auf Wolken erscheinen lassen. Auf ...
Wie gesagt: die Schriftstellerin meiner Schuhmacherin nimmt die Arbeit mit nach Hause. Die Schuhmacherin der Schriftstellerin schläft längst selig. Morgen früh muss sie nämlich, bevor sie ihre Arbeit beginnen kann, mit der Schneeschaufel eine Bahn frei legen von der Straße zur Eingangstür ihres Schuhhauses.
Sonntag, 22. Februar 2009
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