Freitag, 13. Februar 2009

Der falsche Bezug

Es gibt Leute, die denken beim Stichwort "Sankt Crispin" zuerst an Shakespeare. Sie liefern mir postwendend Belege, Textbeispiele, Originalzitate, links auf Filmausschnitte bei youTube usw. Shakespeare legt in seinem Drama "Henry V" der wichtigsten Figur, der Titelgebenden Figur, dem englischen König Henry V vor der Schlacht von Azincourt eine flammende Rede in den Mund. Der König bringt den heiligen Crispin ins Spiel, deshalb wird diese Rede gerne "Saint Crispian's Day Speech" genannt:

KING. [...] O, do not wish one more!
Rather proclaim it, Westmoreland, through my host,
That he which hath no stomach to this fight,
Let him depart; his passport shall be made
And crowns for convoy put into his purse:
We would not die in that man's company
That fears his fellowship to die with us.
This day is called the feast of Crispian:
He that outlives this day, and comes safe home,
Will stand a tip-toe when the day is named,
And rouse him at the name of Crispian.
He that shall live this day, and see old age,
Will yearly on the vigil feast his neighbours,
And say "To-morrow is Saint Crispian":
Then will he strip his sleeve and show his scars.
And say "These wounds I had on Crispin's day."
Old men forget: yet all shall be forgot,
But he'll remember with advantages
What feats he did that day: then shall our names,
Familiar in his mouth as household words
Harry the king, Bedford and Exeter,
Warwick and Talbot, Salisbury and Gloucester,
Be in their flowing cups freshly remember'd.
This story shall the good man teach his son;
And Crispin Crispian shall ne'er go by,
From this day to the ending of the world,
But we in it shall be remember'd;
We few, we happy few, we band of brothers;
For he to-day that sheds his blood with me
Shall be my brother; be he ne'er so vile,
This day shall gentle his condition:
And gentlemen in England now a-bed
Shall think themselves accursed they were not here,
And hold their manhoods cheap whiles any speaks
That fought with us upon Saint Crispin's day.

Mit Schuhen hatte die Schlacht von Azincourt, eine der wichtigen Schlachten im Hundertjährigen Krieg, gar nichts zu tun. Und ob Shakespeare meine Hochachtung für Schuhmacher und deren Schutzpatrone teilte, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube eher, dass er beim Schreiben ähnlich vorging, wie ich. Er brauchte für den Tag der Schlacht - den 25. Oktober 1415 - eine passende Metapher oder einfach nur ein schönes Wort oder hintersinngefälliges Wortspiel. Wie "Crispin- Crispian". Shakespeare musste die Rede seiner Figur, des englischen Königs mit ausreichend Explosivstoff bestücken. Der König musste seine Leute (angeblich nur 1000 Ritter und 5000 Bogenschützen) emotional motivieren - gegen jede andere Motivation sprach der Verstand - gegen das zahlenmässig weit überlegene französische Heer (angeblich 25 000 berittene Krieger) anzutreten und nicht feige davonzulaufen. Shakespeare lässt den König sogar großzügig anbieten, dass jeder, der nicht fechten will, ungestraft und mit Reisegeld ausgestattet nach Hause gehen darf. Mittlerweile haben Historiker belegt, dass das personelle Verhältnis der beiden Heere nicht 1:4 war, sondern höchstens 2:3 - von diesen Forschungen konnte aber Shakespeare nichts gewusst haben. Er, Shakespeare war dem Mythos der Zeit noch absolut verfallen - oder er erschaffte diesen Mythos erst mit seinem Stück selbst, auch das ist möglich. Er, Shakespeare musste eine literarische Erklärung finden für die innere Stärke, das innere Aufstehen einer Handvoll englischer Krieger, welche(s) ihnen diese unglaubliche Schlagkraft verliehen hatte. Und diese Erklärung plausibel herzustellen, ist für den Literaten reine Formsache.
Shakespeare lässt seine Figur, den englischen König eine sprachliche List anwenden, die auch ich in meinen Texten gerne anwende: das Spiel mit der Zeit. Die Zeitspirale. Eine in die Zukunft überdrehte Zeitspirale. Mit einer nicht unerheblichen Suggestivkraft drischt der königliche Feldherr mit literarischen Phrasen auf seine Soldaten ein: denkt daran, immer, wenn der Sankt-Crispin-Tag naht, denkt daran, denkt heute daran, wie ihr euch im Alter an jedem Sankt-Crispin-Tag an diese Schlacht (die in dem Moment, in dem der König spricht, noch gar nicht stattgefunden hat) erinnern werdet, wie ihr euren Söhnen die Narben zeigen werdet, wie ihr stolz auf eure Leistung an jenem Sankt-Crispin-Tag sein werdet, an jedem Sankt-Crispin-Tag bis ans Ende der Welt ... Der König versetzt seine Krieger sprachlich und mental in die Zukunft. Er erzählt ihnen ihre Zukunft. Er baut diese Zukunft rein sprachlich aber nicht minder real, mit einfachsten Mitteln auf: stellt euch vor, wie es sein wird, wie ihr euch fühlen werdet, wenn ihr die Schlacht überlebt habt. Mit diesem hypnotischen Zukunftsentwurf befreit er seine Soldaten vom Bewusstsein der quälenden, bedrohlichen, lebensbedrohlichen Gegenwart. Der König ersetzt mit seiner Rede, in der er nur verbale Mittel beschwörend benützt, das lähmendste, im Krieg unbrauchbarste aller Gefühle, die Todesangst durch eine beflügelnde Kraft, durch Stolz, durch Selbstbewusstsein, durch Gewissheit auf Weiterleben, auf Nachkommen, Kontinuität, Geschichte - mit einem Wort: Wert. Oder: Sinn. So gedopt stürmen die englischen Fußtruppen los. Und gewinnen.
Mit Schuhen hat das alles gar nichts zu tun (was mögen die Fußtruppen für Fußbekleidung getragen haben? Vielleicht zeigt es der Film oder youTube). Auch nicht mit den Handwerkerheiligen, meinen Schuhmacherpatronen und ihren hinten abgerundeten Schuhmacherhämmern. Die Schuhmacher verehrten ihre Schutzpatrone damals bereits seit mindestens eintausend Jahren immer am 25. Oktober. Crispin und Crispinian gehörten den Schuhmachern, lange bevor sie auch Shakespeare vereinnahmte. Alles reine Formsache: Shakespeare musste etwa 183 Jahre nach der Schlacht (die Uraufführung von "Henry V" fand 1599 statt) den Sieg literarisch überzeugend darstellen. Er musste den Sieg als eine logische Abfolge von Taten literarisch begründen. Und das ist ihm, Shakespeare, auch gelungen. Unter anderem mit Hilfe der Heiligen Crispin und Crispinian. Aber die Wahl dieser Heiligen ist purer kalendarischer Zufall. Die Schlacht fand am Tag statt, an dem die Schuhmacher ihrer Schutzpatrone gedenken. Aber die Schlacht hat mit dem Wesen dieser Heiligen und ihrer Verehrung nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Ich mache das übrigens auch gerne. Ich erfinde auch mit Vorliebe literarisch raffinierte und plausible Lösungen für die Geheimnisse dieser Welt.

Die Saint Crispian's Day Speech hier im Original zum nachgucken und nachhören:
http://www.youtube.com/watch?v=OAvmLDkAgAM

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