Donnerstag, 12. März 2009

schwarzrot

Ich kann es mir leisten, mich mit einem Unbekannten in der Lobby eines Hotels in den Glarner Nationalfarben zu treffen. Ich kann es mir in jeder Hinsicht leisten. Mit meinen grauen Haaren, mit meinem momentanen monatlichen Einkommen, mit meinem GA, mit meinen Plänen, mit meinem Kopf, mit meinem Herzen. Nie aber würde ich, Alter, Falten, Bankkonto, Ehrgeiz oder Kalkül hin oder her, auf die Idee kommen, als erstes einen Unbekannten in dessen Wohnung zu begleiten.
Was an der heutigen Pressekonferenz zur Tötung einer 16-Jährigen bekannt wurde, erschüttert mich aus anderen Gründen als den Rest dieses Landes. Das öffentliche Geschrei um Verwahrung, falsche psychiatrische Prognosen, Versagen der Bewährungshilfen, Pannen bei der Echtzeitüberwachung bzw. rückwirkenden Überwachung des Handys des Opfers, Forderungen nach einem nationalen Alarmsystem bei Entführungen usw. ist für mich pures Ablenkungsmanöver. Schaumschlägerei. Viel Lärm um nichts. Die volle Handyüberwachung hätte das Leben der 16-Jährigen nicht gerettet, denn sie war tot, ehe sie als vermisst gemeldet wurde. Das nationale Alarmsystem hätte aus demselben Grund nicht gegriffen. Die junge Frau wurde nicht entführt, sondern ging freiwillig mit. Sie wurde weder betäubt noch vergewaltigt, sondern erschlagen.
Der vorbestrafte Täter stand unter zeitnaher Betreuung. Wegen seiner erneuten Drogenprobleme war mit seinem Einverständnis eine stationäre Behandlung in Betracht gezogen worden. Der spätere Täter war bereits auf dem Weg zu einem entsprechenden Gespräch in die "auf Suchtkranke spezialisierte Klinik Neuenhof" bei Baden. Da er "zu spät" kam, wie es heißt, wurde das Gespräch vertagt - auf den 10. März. Dies ist die einzige fatale Fehlentscheidung, die ich der Bewährungshilfe anlasten könnte, wenn dies denn meine Sache wäre. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass in einer "auf Suchtkranke spezialisierten Klinik" nicht rund um die Uhr ein Ansprechpartner vorhanden ist. Sonst verdient diese Klinik diese Bezeichnung nicht.
Man lenkt hierzulande gerne von den eigenen, inneren Problemen ab. Das sieht, wer es sehen will, beim sogenannten "Steuerstreit" UBS/USA in großen (internationalen) Dimensionen. Und das sieht, wer es sehen will, jetzt anlässlich dieses Kapitalverbrechens in etwas kleineren (nicht einmal nationalen, sondern föderalistisch-kleinlichen, kleinstaatlichen) Dimensionen.
Was um Himmels willen treibt junge Frauen, sich beim ersten Kontakt mit einem unbekannten Mann sofort bereit zu erklären, an dessen Wohnort zu reisen und sich in dessen Wohnzimmer zu setzen? Angeblich hat der Täter seit Ende August 2008 30 Frauen angesprochen, von denen etwa "5 - 10" bis in die Wohnung mitgegangen seien. Das müsste in einem aufgeklärten Land wie der Schweiz zu denken geben. Von den angesprochenen Frauen geht rund die Hälfte mit (Dunkelziffer einmal miteingerechnet). 5 - 10 junge Frauen - zwei davon, wie ich lese, bei ihrem "ersten Ausgang" aus der Provinz in die Großstadt - lassen sich von einem x-beliebigen Typen anquatschen, glauben blind, was der erzählt, steigen mit ihm in den Zug nach Baden, dort in den Bus nach Rieden und gehen noch ein Stück zu Fuß und schließlich die Treppen in den zweiten Stock hoch bis zu seiner Wohnungstür. 5 - 10 Frauen fallen auf den Trick eines Fotoshootings und das Versprechen, schnell viel zu verdienen, herein. 5 - 10 Frauen haben mindestens eine halbe bis maximal ganze Stunde Zeit (so lange dauert überschlagsmäßig der Weg vom Zürcher Hauptbahnhof bis zur Wohnung des Täters), erstens diesen Entschluss zu überdenken, zweitens das Gegenüber genauer anzuschauen, drittens wegzulaufen. Keine tut es offenbar, nachdem sie einmal zugesagt hat, mitzugehen. Zu groß ist ... - ja was denn? Der Wunsch, berühmt, geliebt, begehrt, angesehen, reich zu werden?
Himmelnocheinmal, in welcher Gesellschaft wachsen diese Frauen auf? Was geht in ihren Köpfen und in ihren Herzen vor? Warum funktioniert hier kein Warnsystem? Warum erkennen sie weder eine Gefahr noch die Hochstaplerei? Warum haben sie nicht gelernt, zwischen potentiell eher Drogen konsumierenden Männern und potentiell eher als Modefotografen arbeitenden Männern zu unterscheiden? Warum machen sie nicht einmal vor dem Haus Halt, in dem der Mann wohnt, und das überhaupt nicht danach aussieht, als würde es ein Fotostudio beherbergen? Warum machen sie nicht wenigstens vor der Wohnungstür Halt?
Was um Himmels willen geht in diesem Land vor? Die Justizministerin will nun ein Alarmsystem einführen, das weiter geht, als das französische Vorbild. Klar. Die Schweizer waren immer schon besser als alle anderen.

Wohlgemerkt: der Täter hat "nur" eine dieser Frauen umgebracht, die letzte. Und natürlich ist dieser gewaltsame Tod eines so jungen Menschen sinnlos und überflüssig. Und natürlich hätte er verhindert werden können, ja müssen. Von verschiedenen Seiten. Angeblich, so der Täter, tötete er, weil er zurück in den Knast wollte. Vielleicht tötete er, weil man ihn tags zuvor abgewiesen hatte. Nur weil er zu spät kam. Und: obwohl er kam.

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